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Günther Mahr

Ideen zur regionalen Selbstbestimmung

Zu Antonio Sidekum (Hg.): Corredor de Idéias. Integração e globalização


 Für eine alternative Entwicklung



español  



Antonio Sidekum (ed.):
Corredor de Idéias. Integração e globalização /
Corredor de las Ideas. Integración y globalización
.
São Leopoldo: Editora Unisinos, 2000.
406 Seiten
ISBN 85-7431-038-7




Editora Unisinos:
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1

  Der Corredor de las Ideas, dieser "Ideenkorridor", gewissermaßen ein philosophisches Begleitprojekt zur Wirtschaftsgemeinschaft des MERCOSUR, soll eine Schneise schlagen, die durch die seit einigen Jahren im MERCOSUR wirtschaftlich verbundenen Länder Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Chile verläuft. Ziel ist es, die Integration des südlichen Südamerikas – des Cono Sur – durch die Errichtung eines intellektuellen Netzes zu fördern und u.a. durch gemeinsame Institutionen und formale Angleichungen wie die gegenseitige Anerkennung akademischer Titel zu unterstützen.

2

  Von drei Prinzipien ausgehend – Demokratie, Identität und Menschenrechte –, so das Manifest von São Leopoldo, soll sich das Denken an den Universitäten – denn bei den Teilnehmern am Corredor de las Ideas handelt es sich durchwegs um Universitätsangehörige – in ein Bollwerk verwandeln, das zu einer »alternativen Entwicklung, die im Gegensatz zum eindimensionalen Denken und zur konservativen Form der Modernisierung steht« (18), beiträgt. Der Corredor wurde 1998 in Maldonado (Uruguay) gegründet und hat seitdem jährliche Zusammenkünfte abgehalten, zuletzt im Mai 2000 in Valparaiso in Chile. Hier zur Sprache kommt der Sammelband, der die Beiträge der Tagung vom Mai 1999 in São Leopoldo (Brasilien) vereinigt.

3

  Das aus der europäischen Ferne relativ homogen erscheinende Lateinamerika, so ist vorauszuschicken, wird in seinem Streben nach Einigung durch tatsächlich doch erhebliche Unterschiede und den von jeher sehr starken Nationalismus der einzelnen Staaten behindert. Zugleich ist man sich freilich auch bewußt, daß es – etwa im Vergleich mit Europa – große Gemeinsamkeiten wie die relativ einheitliche Prägung durch die iberischen Sprachen und Kulturen gibt. Ähnlich sind außerdem die internen Probleme – Korruption und extreme soziale Ungleichheit –, sowie die Abhängigkeit von außen, vor allem aufgrund der enormen Schuldenlast. Das Gefühl der Marginalisierung im Weltsystem bringt die verständliche Angst hervor, von der Globalisierung überrollt zu werden.



 Identität als Einheit in der Vielfalt

»Wir sprechen uns für eine Integration aus, die über den Abbau von Zollschranken, den politischen Realismus und die grenzenlose Angleichung an die Weltmächte hinausgeht.«

Manifest von São Leopoldo
(18)

4

  Wie ist es innerhalb dieses historischen Szenarios möglich, sich philosophisch selbst zu bestimmen? Bei den Autoren des Bandes fällt durchgängig ein Verständnis von Identität und Kultur auf, das in gewissem Sinn bemüht ist, das Phänomen der Globalisierung positiv nachzuvollziehen. Insofern nämlich, als man bestrebt ist, jede Selbstdefinition als Abstraktion aufzufassen, die sich aus vielen, ständig wandelbaren Aspekten zusammensetzt und die deshalb im Ergebnis eine flexible Einheit in der Vielfalt bildet. Diese Offenheit führt nicht gleich zur Beliebigkeit und Entwurzeltheit eines global village. Die Gemeinsamkeiten, die zwischen den Ländern der Region bestehen, behalten genug Eigengewicht, um als besondere, allerdings nicht mehr als kulturalistische und essentialistische Identität verstanden zu werden.

5

  Während sich ein Teil der Aufsätze auf die Positionsfindung in der aktuellen Situation konzentriert, ist ein anderer der historischen Aufarbeitung der gemeinsamen Denktraditionen gewidmet. Beide Ansätze ergänzen sich: Die Geschichte der Ideen steht in Lateinamerika schon seit langem im Dienst einer gegenwarts- und zukunftsbezogenen Identitätsbestimmung. Als die Bewegung, als die sie in den 40er Jahren auf dem Subkontinent erstmals hervortrat, war sie zunächst noch stark nationalistisch geprägt. Bis in die 60er Jahre erschienen viele Werke, welche die mexikanische, argentinische, brasilianische usw. Ideengeschichte zum Thema hatten. Ab den 70er Jahren war dann die gemeinsame Perspektive eines Nuestra América vorherrschend. Dieser Lateinamerikanismus wurde später zwar von postmodernen Autoren mit einigem Recht kritisiert, weil er manchmal ins Plakative und Homogenisierende abglitt. Die vorgeschlagene Alternative jedoch, sich nur noch auf Differenzierungen und "kleine Erzählungen" zu beschränken, ist für die Autoren des Corredor ebenso fragwürdig. Was man versucht, ist das Konzept der patria grande, des großen lateinamerikanischen Vaterlands, auf regionaler Ebene wiederzubeleben, wobei man mit Verallgemeinerungen heute zweifellos vorsichtiger umgeht.

»Wir stellen den gegenwärtigen Nicht-Wohlfahrtsstaat und die neuerlich aufgestellte Behauptung von der angeborenen Habgier des Menschen sowie die Neokolonisierung der Welt durch astronomische Schulden, die Unterdrückung legitimer regionaler Ausdrucksformen, die Desinformation und die Domestizierung der Intellektuellen in Frage.«

Manifest von São Leopoldo
(18)

6

  Zwar will man weiter an die klassischen Heroen des Gedankens der lateinamerikanischen Einheit, Bolívar und Martí, anknüpfen, jedoch nicht mehr in dem enthusiastischen und bisweilen teleologischen Tonfall, der viele Schriften der 70er Jahre prägte, etwa diejenigen Leopoldo Zeas. Die "Ideen", um die es geht, sollen konkrete Handlungsperspektiven bieten, die etwas zur Verbesserung des Lebensstandards der Bewohner der Region beitragen können, die sich nach 20 Jahren Neoliberalismus in einer schwierigen Lage befindet: Im Gegensatz zu einigen Ländern Europas, in denen trotz zunehmender Probleme wie Arbeitslosigkeit und schleichendem Sozialabbau der Lebensstandard breiter Schichten auch noch während der 90er Jahre gestiegen ist, hat in Lateinamerika die Verarmung ständig zugenommen (Chile bildet davon zwar eine Ausnahme, doch auch seine Erfolge haben zu keiner echten Lösung der sozialen Frage geführt). Bei den Autoren stößt die heute allerorts (re)aktivierte Konkurrenzideologie ("Konkurriere und du wirst gewinnen") auf massive Ablehnung. Als erstrebenswertes Ideal gilt eine "aufgeklärte Solidarität", die nicht mehr wie manchmal in der Vergangenheit das Individuelle durch das Kollektive erdrückt.

7

  Freilich: vieles an dieser Selbstpositionierung bleibt vage. Die Kritik am Neoliberalismus müßte konkreter versuchen, die wirtschaftlichen Zusammenhänge zu erklären und eine Theorie der Abhängigkeit zu entwickeln. Hier fehlen vergleichbare Ansätze zu denjenigen, die in den 60er Jahren die Dependenztheorie zu bieten imstande war. Die Aufarbeitung der wirtschaftlichen Ideengeschichte der letzten 50 Jahre (Eduardo Deves Valdés) ist in dieser Hinsicht lobenswert und kann Anregungen bringen. Der Versuch, modellhaft die Möglichkeiten neuartiger Solidarität zu entwerfen, den Euclides André Mance unternimmt, ist sicherlich zu begrüßen, wirkt jedoch als ferne Utopie, die nicht genügend mit der problematischen Wirklichkeit vermittelt ist, um bereits eine glaubwürdige Alternative zu bilden.



 "Kleiner Widerstand" statt "Drittem Weg"

Mauricio Langon:
Apuntes para la democratización de la Escuela y el Aula
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Pobreza humana y educación
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Reflexiones en educación
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Educación e Inclusión Democrática
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8

  Ein "Dritter Weg" (Blair, Giddens) oder eine den veränderten kapitalistischen Bedingungen angepaßte (und sie affirmierende) "Zivilgesellschaft" (Schröder) wie in Europa wird von den Autoren des Corredor nicht diskutiert. Zwischen den Zeilen ihrer Beiträge läßt sich etwas erahnen, was wahrscheinlich auch für die wirklich kritischen Kräfte in Europa gilt: daß die Aufgabe für eine praktisch orientierte Philosophie in den nächsten Jahren nicht im Konstruieren großer alternativer Gesellschaftsentwürfe liegen wird, sondern wohl eher in der intellektuellen Organisation des "kleinen Widerstands", der zwar von der Basis einer radikalen Kapitalismuskritik aus erfolgt, zugleich aber um die gegenwärtige Unwahrscheinlichkeit großer politischer Veränderungen weiß.

9

  Im Bereich der Erziehung ist es nötig, entgegen der bloßen Ausrichtung auf wirtschaftliche Effizienz an alten humanistischen Idealen wie an Kants "Selbstdenken" festzuhalten (Mauricio Langon). Die Ideengeschichte soll durch einen staatliche Grenzen überschreitenden Ansatz, der sich etwa die La-Plata-Gegend als Studienobjekt vornimmt (América Platina), das Gemeinschaftsgefühl der Region fördern. Es gilt, sich im Rahmen der Realität universaler Vernetzung die eigene Geschichte und die eigenen Interessen bewußt zu machen. Die Kritik an den vorherrschenden Paradigmen (Konsumismus, Hedonismus) und an der Aufdringlichkeit, mit der versucht wird, die Ikonen einer bestimmten Kultur, der westlichen Film- und Musikindustrie, in das Bewußtsein aller einzuschleusen, muß von der Erkenntnis der Tatsache ausgehen, daß jedenfalls auf der Ebene der von den Medien beeinflußten – und beeinträchtigten – Ideenwelten die Globalisierung schon heute Realität ist. In Bezug darauf wirkt die Betonung der Unterschiedlichkeit der Kulturen veraltet, entspricht jedenfalls nicht ganz den Herausforderungen der Situation. Dies kommt in einigen stärker theoretisch orientierten Beiträgen zum Ausdruck.



 Kultur und Interkulturalität aus neuer Perspektive

»Der anthropische Diskurs schlägt vor, bei der Formulierung einer Interkulturellen Philosophie zum Menschen als dem unbedingten Ausgangspunkt zurückzukehren.«

José Luis Gómez-Martínez
(254)

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  So kritisiert José Luis Gómez-Martínez ein Verständnis von Kultur, das diese wie einen fest definierten "Gegenstand" begreift. Er erteilt damit der Sichtweise des Inders Raimon Panikkar oder des Mexikaners Guillermo Bonfil Batalla eine Absage, welche die Reinheit der Kulturen gegenüber ihren "Mischformen" verteidigen, die sie als Abart verurteilen. Bonfil Batalla etwa spricht abfällig von der "Desindianisierung" der Indígenas, die nun entwurzelt in den Städten Mexikos lebten. Demgegenüber betont Gómez-Martínez, daß es jedenfalls in Lateinamerika heute kaum noch reine "Indígenas" gibt, sondern nur noch Menschen, die zumindest zwei Kulturen angehören. Von einer bestimmten Kultur als Kriterium auszugehen, sei deshalb nicht realitätsgerecht. Auch der interkulturelle Ansatz Fornet-Betancourts wird kritisiert, weil er, obwohl er dem Individuum einen gewissen Spielraum zugesteht, doch stärker den Begriff der Kultur in den Vordergrund stellt als den konkreten Menschen, der sich in seiner jeweiligen historischen Situation einfach selbst bejahen will.

Günther Mahr
promovierte mit einer philosophischen Arbeit zur lateinamerikanischen Geschichte der Ideen an der Universität Wien.

11

  Wie kann aber, wenn "Aufhänger" wie die Kulturzugehörigkeit wegfallen, noch zwischen einem "authentischen" und einem "entfremdeten" Sein unterschieden werden? Auch klassisch marxistische Überlegungen haben, wie man weiß, hier eher wenig Nützliches zutage gefördert, weil sie die Komplexität und Vielfalt der Lebenswelten zu wenig beachtet haben. Einen interessanten Ansatz skizziert José Luis Rebellato: Gegen simplizistische Wirklichkeitsbehauptungen, die eine scheinbar ausgeglichene Ordnung der Dinge wiedergeben, stellt er das von Fritjof Capra entlehnte Paradigma der Komplexität aller natürlichen und menschlichen Verhältnisse. Dem entspricht das bei Deleuze und Guattari gefundene Modell des "Rhizoms", eines weitverzweigten Wurzelsystems mit verschiedenen Ein- und Ausgängen. Ein die Komplexität des Lebens anerkennendes Denken, so Rebellato, wird autonom und autopoietisch sein, dagegen führt eine reduktionistische lineare Haltung zu Erscheinungsformen wie Expansion, Konkurrenz, Herrschaft und Heteronomie. Der systemische, integrative Ansatz setze auf Intuition, holistische Annäherung, Nachhaltigkeit und Zusammenarbeit. Rebellato nimmt hier sozusagen das Beste aus der Postmoderne, verwendet es für eine Kritik am Neoliberalismus und stellt es in den Dienst einer Ethik der Befreiung.

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  Das hier nur in einigen seiner Aspekte vorstellbare Buch stellt einen Zwischenbericht über eine gemeinsame Denkanstrengung dar. Die Autoren sind sich bewußt, daß es in der gegenwärtigen Lage keine einfachen Antworten gibt. Sicher sind sie sich allerdings darüber, daß nur auf der Basis des Bekenntnisses zur eigenen Situation und Tradition sowie im Bemühen um Einheit zu brauchbaren Erkenntnissen zu gelangen ist.



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