polylog
literatur · rezensionen
themen literatur agenda archiv anthologie kalender links profil

Wolfgang Tomaschitz

Karma, akademisch überragend

Zu Gananath Obeyesekere: Imagining Karma. Ethical Transformation in Amerindian, Buddhist and Greek Rebirth

Die Transformationskraft eschatologischer Axiome

Gananath Obeyesekere:
Imagining Karma. Ethical Transformation in Amerindian, Buddhist and Greek Rebirth.
Berkeley: University of California Press, 2003.
xxix, 448 Seiten
ISBN 0-520-23243-7
book cover
University of California Press:
external linkWebsite
1 Vor vierzig Jahren hat Gananath Obeyesekere, Emeritius für Anthropologie an der Princeton University, mit dem Aufsatz »Theodicy, Sin and Salvation in Sociology of Buddhism« einen ersten, wie er selbst meint, bescheidenen Versuch unternommen, die Ursprünge und Umrisse einer Karma-Theorie abzustecken. Seitdem hat dieses Thema nicht nur ihn fortwährend beschäftigt, sondern eine Reihe von Forschern, die diesen Fragenkomplex nicht nur im Rahmen der großen indischen Lehrsysteme, sondern auch in westafrikanischen, melanesischen, amerindischen und vorsokratisch-griechischen Kulturkreisen untersucht haben. Unter Einbeziehung dieser Forschungen hat Obeyesekere nun mit Imaging Karma eine sprichwörtlich reife Frucht seiner Überlegungen nach vier Jahrzehnten vorgelegt.
2 Die Auskunft Obeyesekeres bezüglich der Ziele seiner Arbeit ist von einem fast irreführenden Understatement. Zum einen habe er das Bild korrigieren wollen, wonach differenzierte Theorien von Wiederverkörperung nur in Indien zu finden seien oder zumindest dort ihren Ursprung hätten. Das zu widerlegen sei durch zahlreiche ethnographische Forschungen außerhalb der Hochkulturen, in kleinmaßstäbigen Gesellschaften (small-scale societies) möglich geworden. Sein zweites Anliegen wäre, Karma und Wiederverkörperung auch im Kontext der griechischen Philosophie, der vorsokratischen und platonischen, zu untersuchen. Er habe, weil die Sekundärliteratur zu Platon ohnehin nicht zu bewältigen sei, den »vielleicht verrückten Schritt« unternommen, Platon selbst zu lesen und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass Platon, ebenso wie Buddha, selbst an Wiederverkörperung glaubte. »And these are very powerful thinkers« – wie er in einem Interview mit entwaffnender Schlichtheit bemerkt; es sei also nur naheliegend, deren Position ernst zu nehmen.
3 In Wahrheit unternimmt Obeyesekere natürlich viel mehr. Denn was er tatsächlich beschreibt, ist die Transformationskraft eschatologischer Axiome, die, einmal etabliert, kulturübergreifend zu umwälzenden Veränderungen in der Ethik, der Ontologie, der Kosmologie und den Jenseits- und Seelenvorstellungen führen.

Ethisierung der Wiedergeburtslehren

»Plato's disciple Plotinus treats his masters’s rebirth theories as literally true, … therefore I am in rather distinguished company in thinking that Plato himself believed in the truth of rebirth.«

Gananath Obeyesekere
4 Der Versuch einer neuen Verortung der Lehren von Karma und Wiederverkörperung außerhalb des indischen Kulturkreises führt Obeyesekere zu den Eschatologien der Igbo in Westafrika, zu den Kwakiutl und Gitksan an der amerikanischen Nordwestküste und den Tlingit in Alaska. Dabei geht es ihm nicht nur darum zu zeigen, dass in diesen Gesellschaften sehr weit entwickelte Theorien über Zyklen von Wiedergeburten, über Verfehlung, Reinigung und über Seelenverwandtschaften im Diesseits wie im Jenseits lebendig sind (oder gerade noch lebendig waren, als der Blick des Ethnografen zum ersten Mal auf sie fiel), sondern dass innerhalb dieser Theorien Abstufungen hinsichtlich der »Ethisierung« (ethicization) dieser Wiedergeburtsvorstellungen unterscheidbar sind. Das heißt, der ethnografische Befund legt nahe, Karmatheorie und Wiedergeburtsvorstellungen zunächst einmal getrennt zu betrachten.
5 Denn es zeigt sich, dass eine ganze Reihe von Wiederverkörperungslehren eher mit der Konstituierung von Stämmen und Clans, mit der Beziehung zu den Ahnen, mit dem Verhältnis von Mensch und Tier in Jagdgesellschaften und mit der Einhaltung bestimmter Übergangsriten im Zusammenhang stehen, als mit Schuld, Ausgleich und Verdiensten, wie das für entwickelte Karmatheorien charakteristisch ist. An einer Reihe von Beispielen wird anschaulich, dass die Ethisierung der Seelenwanderungserzählungen in vielen Kulturen auf ältere »amoralische« Lebens-, Jenseits- und Göttergeschichten zurückgreift. Obeyesekere sieht dieses Phänomen im Zusammenhang mit den Transformationsprozessen der Achsenzeit, in welchen in allen Kulturen, die davon erfasst wurden, Kernstücke der Tradition neu gedacht und umgeformt wurden.
6 In dem Kapitel »Emergence of the Karmic Eschatology« gibt er ein Beispiel: Demnach steht am Beginn dieser Transformation eine Wandlung moralischer Bewertungen in religiöse. Damit beginne Moral in eine ontologische Dimension zu wachsen, die, wie Obeyesekere an zahlreichen Bespielen zeigt, zunächst an den Übergängen von einer Welt in eine andere (z.B. dem Eintritt in einen Himmel) erkennbar wird, der nun zunehmend von moralischen Gesichtspunkten abhängt. In einem nächsten Schritt der Ethisierung verwandele sich dann das Jenseits, die »Anderswelten«, wie Obeyesekere sie nennt, selbst zu einem Ort von Lohn und Strafe.
7 Doch die Transformation der Wirklichkeit sei damit noch nicht abgeschlossen; denn sobald der Übergang zwischen den Welten einmal hauptsächlich in moralischen Begriffen gedacht werde, sei auch die Art und Weise einer neuerlichen Verkörperung nur mehr unter diesen Gesichtspunkten zu begreifen. Das heißt, nicht nur das Nach-Todliche, auch die diesseitige Welt wird Teil eines übergeordneten Gesetzes von Verdienst und Strafe, günstiger oder ungünstiger Geburt.
8 Dieses wirkt, wie Obeyesekere plausibel macht, wiederum mächtig innerhalb der älteren Wiedergeburtsszenarien, die um den Clan-Zusammenhalt und Ahnenreihen zentriert waren. Denn die Logik von Schuld und Verdienst vereinzele die Seelen und zeichne Lebenswege vor, die weit über den engen Kreis der Familie und des Stammes hinausreichen. Das einzelne, schuldfähige und verantwortliche Subjekt komme damit in den Blick. Ein Phänomen, das Obeyesekere in einigen Gesellschaften nachweist, deren Entwicklungsstufe üblicherweise noch vor der Geburt des Individuums angesiedelt wird. Ihre vorläufig letzte Stufe erreicht die hier beschriebene Transformation, wenn Wiedergeburt überhaupt nicht mehr außerhalb moralischer Kategorien gedacht, sondern selbst als ein Produkt falschen oder richtigen Handelns gesehen wird.

Re-Lektüre indischer und griechischer Traditionen

Harry Kreisler:
Understanding Culture.
Conversation with Gananath Obeyesekere
.
2003.
external linkInterview
9 Eine in diesem Sinn voll entwickelte Karmatheorie, die Ethisierung und Wiedergeburtslehren verbindet, sieht Obeyesekere nur in den Religionen Indiens. In zahlreichen anderen Kulturen finden sich Zwischenstufen, für die er nicht nur die Entfaltungslogik der großen Intuitionen von Schuld und Verdienst und deren Gewicht im Kosmos nachzeichnet, sondern deren Spuren er auch in den Schichten des empirischen Materials nachweisen kann.
10 Besonders ergiebig sind dabei seine Analysen früher buddhistischer Theorien vor dem Hintergrund der vedischen Tradition, vor allem aber seine Re-Lektüre der klassischen griechischen Philosophie. Über hundert Seiten nimmt diese Untersuchung ein, die bei Pythagoras, Empedokles, den Oden Pindars und zuletzt ausführlich bei Platon nachweist, dass die Idee der Wiederverkörperung dort eine Rolle spielt und dass das meiste davon, den zeitgenössischen und klassischen Interpreten der griechischen Philosophie – auf Grund einer merkwürdigen Verdrängung – entgangen ist.
11 Gananath Obeyesekere hat mit diesem Buch einen wichtigen Schritt über die bisherigen, eher philologisch orientierten Arbeiten getan. Er zeigt in den systematischen Partien, wie weit eine ernstzunehmende Theorie von Karma und Wiedergeburt reichen würde, wie viele Wissensbereiche – nicht nur des sozialwissenschaftlichen Fächerkanons – davon berührt würden. Und er rührt an Fragen, die uns heute in nach-traditionellen und religionskompositorischen Milieus selbst als Ansichten über Gut und Böse, Schuld und Verdienst umtreiben, und wirft dabei viel akademisches Licht auf eine Sphäre, die sich klären muss. Denn mittlerweile ist, nach Kant, nicht mehr nur wahr, dass »jeder etwas von seiner Seele denkt«, sondern nicht wenige denken auch schon etwas über ihre vergangenen Leben.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 6 (2005).
Online: http://lit.polylog.org/6/rtw-de.htm
ISSN 1616-2943
Quelle: external linkpolylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 12 (2004), 132-133.
Autor: Wolfgang Tomaschitz, Wien (Österreich)
© 2005 Autor & polylog e.V.
themen literatur agenda archiv anthologie kalender links profil