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Ulrich Lölke

Philosophie als Mythos-Macherin?

Zu Messay Kebede: Africa's Quest for a Philosophy of Decolonization

Das schwierige Verhältnis von Identität und Philosophie

Messay Kebede:
Africa's Quest for a Philosophy of Decolonization.
Amsterdam – New York: Rodopi, 2004.
XIII, 256 Seiten
ISBN 90-420-0810-5
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Editions Rodopi:
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1 Zwischen 1988 und 1997 sind einige Bücher auf dem US-amerikanischen Markt erschienen, die den Diskurs einer afrikanischen Philosophie stark beeinflusst haben. Den Anfang in dieser Reihe machte sicherlich Valentin Y. Mudimbes Buch The Invention of Africa. Überraschenderweise hat Mudimbes Analyse der diskursiven Formationen philosophischer Literatur zu einer Debatte über die längst tot geglaubte Ethnophilosophie geführt, obwohl The Invention of Africa nicht als eine Verteidigung ethnophilosophischer Ansätze gelesen werden kann.
2 Dismas Masolos Buch African Philosophy in Search of Identity (1994) steht zum Beispiel für eine solche Position, die in dem belgischen Franziskaner-Pater Placide Tempels den Begründer einer afrikanischen philosophischen Literatur sieht. Dabei wird nicht nur von Masolo die dezidierte Kritik an solchen Ansätzen übergangen. Seine theoretische Orientierung ist wenigstens widersprüchlich. Einerseits wird Bergsons Begriff eines élan vital aufgenommen, der ja in Tempels Bantoe-Filosofie eine zentrale Rolle spielt. Diese Orientierung wird bei Masolo dann allerdings mit einem Weberschen Rationalismus verbunden, denn in der Zurückweisung der Prälogismus-These Levy-Bruhls sieht Masolo eine Aufgabe der Philosophie Afrikas. Dies sind nicht nur zwei schwer zu vereinbarende Positionen, es sind auch philosophische Gefechte, die beide irgendwie anachronistisch wirken.
3 Wie sich ethnophilosophische Ansätze in die kulturphilosophischen Debatten der Gegenwart übertragen lassen, bleibt in dieser strikten Variante der Ethnophilosophie, wie sie von Masolo und anderen vertreten wird, unverständlich. Warum spielt zum Beispiel Odera Orukas Sage-Philosophy-Projekt in diesen Versuchen einer Wiederbelebung der Ethnophilosophie keine bedeutende Rolle?

Die Stimme Afrikas

4 Das Buch des an der Universität Dayton (USA) lehrenden äthiopischen Philosophen Messay Kebede markiert schon mit seinem gleich klingenden Titel seine Nähe zu Masolo. Er bezieht sich deutlich auf dessen Versuche einer Rehabilitierung der Ethnophilosophie. Kebede hat sich in seinen früheren Arbeiten mit Fragen der Entwicklung, der Modernisierung sowie des kulturellen Wandels Afrikas insgesamt, aber auch seiner Heimat Äthiopien im Besonderen befasst.
»The problem is not so much the African difference as its formulations in terms free of Eurocentric stereotypes.«

Messay Kebede
(90)
5 Auffällig an seinem aktuellen Buch ist zuerst das starke Ungleichgewicht zwischen Titel und Inhalt. So ist schon die konsequente Subjektivierung des Kontinents (»Afrika’s quest«) alarmierend. Wer ist die geisterhafte Stimme, die da im Namen eines Kontinents spricht? Wer vertritt die erhobene Forderung nach Philosophie? Müsste man nicht davon ausgehen, dass es sich hierbei um eine Selbstüberschätzung des akademischen Personals handele als um ein realistisches Ansinnen eines Kontinents? Ähnlich geheimnisvoll steht es mit der angekündigten »Philosophie der Dekolonisation«, denn – und das ist tatsächlich erstaunlich – Kebede geht in seinem Buch mit keinem Satz mehr auf das angekündigte Konzept ein. Das ist schade, denn genau ein solches Projekt scheint mir ausgesprochen interessant zu sein, und es hätte auch gute Vorarbeiten gegeben, auf die es sich gelohnt hätte einzugehen (z.B. Kwasi Wiredus Arbeiten zu einer conceptual decolonisation).
6 Was macht Kebede stattdessen? Das Buch besteht aus drei thematischen Blöcken, die in insgesamt neun Kapitel gegliedert sind. Neben einer Eröffnung mit einem Kapitel über den Afrikadiskurs im Westen und einem Einführungskapitel zu Tempels Bantoe-Filosofie befassen sich drei zentrale Kapitel mit dem Begriff der Andersheit (otherness) und vier abschließende Kapitel mit Kebedes eigenem Ansatz einer, wie ich es nennen würde, konstruktivistischen Mythostheorie.

Afrika und der Westen

7 Die Darstellung der Western Discourses on Africa stützt sich auf wenige ausgewählte Vertreter eines Afrikadiskurses in Europa im frühen 20. Jahrhundert. Der von Kebede nachgezeichnete Diskurs kann nicht unbedingt als westlich, allerhöchstens als europäisch und hier eigentlich auch nur als französisch bezeichnet werden. Das Afrikabild »des Westens« wird nämlich überwiegend aus den Arbeiten Levy-Bruhls abgeleitet – und fällt dementsprechend karg aus. Der Autor hat dabei einen unverkennbaren Hang zu einer Spenglerschen Zivilisationskritik (auf welchen er sich jedoch nicht explizit bezieht) im Sinne eines moralischen und kulturellen Verfalls des ehemaligen Hegemon Europa. Die Postmoderne gilt ihm dabei als höchste und letzte Stufe eines (westlichen) Zivilisationsprozesses, die gleichzeitig eben auch höchster Ausdruck seines Verfalls ist.
8 Kebede sieht im Zerfall Europas für Afrika die Möglichkeit einer Befreiung aus der europäischen – respektive westlichen – epistemologischen Umarmung. Diese Position würde man aktuell wohl – in Anlehnung an die Arbeit von Avishai Margalit und Ian Buruma – als »Okzidentalismus« bezeichnen. Kebede macht es sich jedoch zu einfach mit seiner Skizze westlicher Afrikadiskurse – und vermutlich auch mit seiner Prognose über die Zukunft Europas.

Die Geschichte der Philosophie in Afrika

Tempels
Placid Tempels
(1906-1977)
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© KADOC (Leuven)
9 Placide Tempels ist für Kebede der Bruch und die Lücke im kolonialen System. Eine ausführliche Kritik der Debatten um Tempels in den vergangenen Dekaden nimmt der Autor leider nicht vor. An den Stellen, an denen es neue Forschungen zu Tempels und seinem philosophischen und religiösen Umfeld gegeben hätte, zieht sich Kebede auf schon bekannte Behauptungen zurück:
10 Tempels does not behave as a scout searching for a different mode of life; he is attached to the civilizing mission of the West. He is in Africa not so much a learner as an educator. (45)
11 Interessant wäre gewesen, wenn sich der Autor an dieser Stelle auch mit dem Wirken der Person Tempels in Katanga und der von ihm gegründeten religiös-charismatischen Jamaa-Bewegung befasst hätte. Denn vermutlich hätte er dann die zitierte These nicht so einfach aufstellen können. Zudem vertritt er die überraschende Position einer rassischen Differenz von Afrikanern und »Menschen aus dem Westen«:
12 One must go beyond Tempels by showing that the philosophical disparity of Africa […] implicates more than just a difference in conceptions; it is first and foremost a different way of being and understanding the world. The difference flows from racial otherness […]. (50)
13 Am Beispiel der Négritude von Léopold Sédar Senghor wird im dritten Kapitel ein Konzept dieser Andersheit entwickelt und dann in den folgenden Kapiteln zu einem zentralen Begriff ausgebaut: »The choice between otherness and sameness […] is the main theme of African philosophy.« (83)
14 Wenn Kebede in diesem Zusammenhang formuliert: »The problem is not so much the African difference as its formulations in terms free of Eurocentric stereotypes« (90), dann konterkariert er damit einerseits seine eigene These von der rassischen Differenz zwischen Afrikanern und Europäern. Er nimmt damit aber immerhin eine der zentralen Fragen in der Nachfolge der Négritude und ethnophilosophischer Ansätze auf. Er verpasst so aber eine produktive Auseinandersetzung mit den Ansätzen jener Autoren, die in den 1960er und 70er Jahren genau diese Debatten schon einmal geführt haben: Fabien Eboussi Boulaga wird nicht einmal erwähnt, Paulin J. Hountondji und Marcien Towa werden zu marxistischen Autoren gemacht, als die sie heute natürlich leicht zu diskreditieren sind. Um diese wichtigen Debatten verstehen zu können, wäre es allemal interessanter gewesen, Hountondji vor dem Hintergrund der französischen Epistemologie und Towa mit Hegel zu lesen. Ihr Marxismus scheint mir weniger systematisch bedeutend zu sein, als es Kebede annimmt.
»Because relativism cannot really arouse beliefs, it cannot lift up human ambitions and actions. Herein lies the strength of ethnophilosophy: apart from relativizing the West, it revalorizes feelings and beliefs, thereby stimulating the myth-making function.«

Messay Kebede
(151)
15 Auch im Umgang mit den Positionen Odera Orukas, Frantz Fanons, Cheikh Anta Diops und Kwasi Wiredus macht es sich Kebede häufig leicht: wenn er etwa Fanon auf seinen Begriff der Gewalt reduziert und diesen dann nicht psychoanalytisch sondern sozialpolitisch bewertet; oder wenn er Wiredus kritische Bemerkungen zur Bedeutung afrikanischer Kulturen im postkolonialen Afrika aus den 1970er Jahren heranzieht, ohne zu bemerken, dass dieser seine Position seit langem sehr gründlich und überzeugend revidiert hat. Weiterhin ist Mudimbe meines Erachtens kein Vertreter einer dekonstruktivistischen Schule, wie der Autor es behauptet.
16 Insofern kann für die Kapitel I bis VI zusammenfassend gesagt werden, dass die dargestellten Positionen insgesamt vage bleiben, wichtige Forschungsergebnisse unberücksichtigt bleiben und der Autor auf der Grundlage einer sehr dünnen Quellenlage argumentiert, die zudem wenig aktuell ist. Diskutiert werden überwiegend die Standardwerke, ohne neuere Arbeiten zu berücksichtigen. Kebedes Reduktionismus wirkt dabei nicht klärend, sondern ist irreführend. Er begründet nicht, warum er die Debatte der 1960er Jahre wieder aufnimmt, ohne auf die neueren Forschungsergebnisse einzugehen.

Myth-making als Philosophie?

17 In den Kapiteln VI bis IX entwickelt der Autor eine Position, die er selbst als eine Vermittlung der nach seiner Auffassung sich ausschließenden Ansätze von Ethnophilosophie und professioneller Philosophie (wie er – in Anlehnung an Oruka – die Ansätze Hountondjis u.a. aus den 1970ern bezeichnet) versteht. Kebede selbst geht von unvereinbaren Positionen der Ethnophilosophie und der professionellen Philosophie in Bezug auf mögliche Zugänge zu der vom kolonialen System diskreditierten Geschichte Afrikas aus. (Aber zeigt nicht Orukas Sage-Philosophy-Projekt, dass es Übergänge zwischen den beiden Positionen gibt?) Während die professionelle Philosophie für die Anerkennung der Tatsache der verloren gegangenen Vergangenheit Afrikas plädiere, so Kebede, bemühe sich die Ethnophilosophie um eine Revitalisierung einer Tradition, die tot sei, und insofern von den Autoren essentialisiert würde.
»The whole question is to know whether this attempt to make the past usable for liberation and development can be anything other than myth-making. Being already dead, only in the form of a myth can the past incarnate whatever influence it is supposed to have on the present.«

Messay Kebede
(149)
18 Kebede sieht nun im postkolonialen (postmodernen) Vergangenheitsdiskurs, in der Aneignung eines von der Kolonisation dominierten diskursiven Raumes, die Möglichkeit einer Aneignung durch Erfindung. Folgte man Kebede, so lehrten uns die postmodernen Autoren die Vielfalt der Positionen sowie die Konstruiertheit der Welt. Insofern sollte Afrika sich nicht scheuen, ihre Vergangenheit durch Neuerfindung wieder herzustellen. Afrikas schwieriger Umgang mit einer diskreditierten Vergangenheit könne nur durch einen kreativen Akt einer literarischen Neuschöpfung aufgelöst werden, zu dem die Postmoderne auffordere. Diese konstruierte Vergangenheit wird von Kebede als Mythos bezeichnet. Er sieht eine zentrale Aufgabe der Philosophie der Gegenwart in Afrika im Herstellen eines solchen Mythos (myth-making).
19 Kebede schlägt vor: Herstellung eines Mythos im Sinne eines Ursprungsmythos einer ethnischen, nationalen oder afrikanischen Einheit, als Ersatz für eine verlorene Vergangenheit, als ein philosophisches Projekt. Tatsächlich ist dies eine Rückkehr in die Fußstapfen einer Négritude Senghors, so wie jener sie sich in den 1960er Jahren als Staatsphilosophie im Sinne eines nationalen Mythos des unabhängigen Senegal ausgedacht hatte. Literatur, Kunst, Philosophie erfinden Afrika als eine postkoloniale Erzählung. Vielleicht steht auch das Modell des südafrikanischen Präsidenten Mbeki einer »afrikanischen Renaissance« in dieser Tradition.
20 Die Debatten um eine Dekonstruktion kolonialer Systeme und die Kritik an der Négritude haben aber gezeigt, dass der Ausstieg aus diesen diskursiven Bindungen nicht als Ad-hoc-Erfindung zu erreichen ist. Die Négritude hatte ja gerade sichtbar gemacht, dass ein solches Projekt zurückspringt in die Stereotype europäischer, kolonialer Afrikabilder. Myth-making als Entwicklungsprogramm eines unabhängigen Afrika mag politisch interessant sein, wie die südafrikanische African Renaissance zeigt, aus einer philosophischen Perspektive wirkt es naiv, weil auch kein »Afrika« als subalterne Sprecherin zur Verfügung steht. Es bleibt völlig unklar, wer als Autorin eines afrikanischen Mythos auftreten kann. Kebedes Thematisierung der Bedeutung afrikanischer Eliten beantwortet diese Frage jedenfalls nicht. Ein postkolonialer Raum lässt sich nicht mit Hilfe eines kreativen Sprunges erreichen, sondern allenfalls durch die beharrliche Dekonstruktion und Kritik der weiterhin wirksamen kolonialen Formationen von Macht und Wissen.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 6 (2005).
Online: http://lit.polylog.org/6/rlu-de.htm
ISSN 1616-2943
Autor: Ulrich Lölke, Hamburg (Deutschland)
© 2005 Autor & polylog e.V.
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