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Karl Baier

Die Zeit des Erwachens

Zu Rolf Elberfeld: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus.
Methoden interkulturellen Philosophierens

Eine Morgenlandfahrt zum Thema Zeit

Rolf Elberfeld:
Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens.
Stuttgart-Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog, 2004.
417 Seiten
ISBN 3-7728-2227-4
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Verlag Frommann-Holzboog:
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1 Rolf Elberfeld, phänomenologisch orientierter Philosoph und Spezialist für buddhistische Philosophie Ostasiens und die Kyôto-Schule, legt mit seiner Habilitationsschrift ein Werk zur buddhistischen Zeitphilosophie vor, das zugleich zentrale Methodenfragen interkulturellen Philosophierens behandelt und Umrisse von Elberfelds eigenem Philosophie-Verständnis entwickelt. Es geht also nicht um bloße Philosophiehistorie, sondern um die interkulturelle Erörterung von Sachfragen, und dies im Sinn einer »transformativen Phänomenologie«, die darauf abzielt, durch die Übung des Denkens den Weltbezug des Philosophierenden zu verwandeln.
2 Im Zentrum des Buches steht eine Satz-für-Satz-Interpretation des berühmten Kapitels »Uji« aus dem Shôbôgenzô, dem Hauptwerk des japanischen Philosophen Eihei Dôgen Kigen (1200-53), dessen Neuübersetzung durch Elberfeld im Anhang auch als zusammenhängender Text nachzulesen ist. Das Buch führt schrittweise an Dôgen heran, wobei die Leserin gleichsam in der europäischen Philosophie abgeholt und über verschiedene Stationen zum Denken Dôgens hingeführt wird. Der letzte Abschnitt des Buches widmet sich Anknüpfungspunkten zwischen der europäischen und buddhistischen Tradition der Zeitphilosophie. Auf der Ebene der Textpragmatik inszeniert Elberfeld damit eine Art Morgenlandfahrt, inklusive Hin- und Rückflug und einem anspruchsvollen Meditations-Retreat zum Thema Zeit.

Trauern als Grundstimmung buddhistischer Philosophie

3 Der erste Teil des Buches widmet sich hermeneutischen Problemen des Gesprächs zwischen europäischen und asiatischen Philosophien. Die Probleme beginnen bekanntlich bereits mit dem Begriff »Philosophie« und der Frage, ob man ihn für nichteuropäisches Denken verwenden sollte. Elberfeld geht verschiedene europäische Definitionen der Philosophie durch, mit dem Ergebnis, dass dafür genügend Parallelen bestehen, besonders was vorneuzeitliches Philosophieren anlangt. In der Neuzeit sei Philosophie als Medium der Lebenskunst und der auf ethische Transformation abzielenden geistigen Übung ins Hintertreffen geraten. Diese Dimensionen des Philosophierens sollen u.a. durch die Beschäftigung mit asiatischer Philosophie wieder zurückgewonnen werden.
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4 Eine erste Annäherung an buddhistische Philosophie möchte Elberfeld durch die Erörterung ihrer Grundstimmung bahnen. Er knüpft damit an einen Gedanken Heideggers an, nach dem Grundstimmungen Weisen vorprädikativer Welteröffnung sind, die den Philosophien verschiedener Epochen zugrunde liegen. Dieser Ansatz soll für interkulturelles Philosophieren fruchtbar werden. Vom Staunen, das bei Platon und Aristoteles dem Philosophieren zugrunde liegt, wird »ein tiefes Trauern über die Nichtigkeit und Vergänglichkeit aller weltlichen Zusammenhänge« (66) als Grundstimmung buddhistischer Philosophie abgehoben. Im Staunen findet Elberfeld ein Moment der Distanzierung und Spaltung. Der Mensch kommt in die Beobachter-Rolle, worin sich die »spezifische Differenz zur buddhistischen Grundstimmung« abzeichnen soll (64, Anm. 76). Ein weiterer Unterschied zwischen dem Philosophieren aus Staunen und dem aus Trauer liegt darin, dass es zu unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Fragerichtungen führt:
5 Der Verwunderte will mehr wissen und zur Schau des Ganzen gelangen. Die leidende Trauer führt dagegen zur Frage nach dem Warum der Vergänglichkeit und nach möglichen Auswegen aus der grundsätzlichen Situation dieser Nichtigkeit. (66)
6 Ich halte diesen Teil der Arbeit für nicht sehr überzeugend. Obwohl er sonst mit philologischer Akribie arbeitet, bleibt Elberfeld den Nachweis der Trauer als buddhistische Grundstimmung anhand der Texte des Pali-Kanon schuldig, und ich glaube, dass dafür tatsächlich keine ausreichende Textbasis existiert. Auch trifft es wohl nur für bestimmte Varianten des Staunens zu, dass sie eine Distanzierung von Welt und Mensch bedeuten. In Bezug auf die Getragenheit der Philosophien von verschiedenen Grundstimmungen und ihren interkulturellen Vergleich wird man in Zukunft wohl differenzierter und enger an den Texten arbeiten müssen.

Sprachformen und nahe liegende Denkweisen

Die chinesische und japanische Philosophie-Tradition zeigt, wie fruchtbar die von der Grammatik her nahe liegenden subjektlosen Sätze und die damit artikulierten subjektlosen Geschehensweisen für das Philosophieren sein können. 7 Setzt man sich als europäischer Philosoph mit chinesischer und japanischer Philosophie auseinander, dann gibt es keinen gemeinsamen grammatikalischen Boden des Denkens mehr. Die involvierten Sprachfamilien unterscheiden sich tief greifend. In der Tradition Humboldts geht Elberfeld davon aus, dass verschiedene Sprachformen verschiedene Denkweisen nahe legen. Eine deterministische Verknüpfung von Sprache und Denken lehnt er ausdrücklich ab, ist es doch in jeder Sprache möglich, auch gegen ihre vorgeprägten Sinnstrukturen anzudenken und neue Möglichkeiten des Sagens zu entwickeln.
8 Europäische Philosophie entfaltet laut Elberfeld vor allem die in ihren Sprachen besonders akzentuierten Möglichkeiten des Aussagesatzes, bei dem ein Satz-Subjekt in bestimmter Weise charakterisiert wird, sowie das Denken in schlussfolgernden Satzreihen. Die chinesische und japanische Philosophie-Tradition zeigt dagegen, wie fruchtbar die von der Grammatik her nahe liegenden subjektlosen Sätze und die damit artikulierten subjektlosen Geschehensweisen für das Philosophieren sein können. Hier wird die Gebungssituation der Dinge betont und nicht ihr situationsindifferenter Substanzcharakter, dem einmal dies und ein andermal jenes zukommt (98-99). Als Grundwortart fungiert das Verbum. Sein wichtigster Modus ist das Medium, das Vorgänge als »feldhaftes Strukturgeschehen« in den Blick bringt (100-103). Die zeitangebenden Formen sagen jedenfalls die Beziehung des Sprechenden zum zeitlich bestimmten Geschehen mit aus, sodass Zeit nicht als objektive Größe erscheint. Wieder ist der lebendige Situationsbezug besser gewahrt als in der europäischen Sprachfamilie.

Jenseits der Alternative von Religion oder Philosophie

»Der Text fungiert nicht als eine einfache Auslegung buddhistischer Lehren, aber auch nicht einfach als eine antiintellektualistische spirituelle Anleitung.«

Rolf Elberfeld
(155)
9 Eine letzte hermeneutische Überlegung gilt der Textpragmatik, die danach fragt, was ein Text mit der/dem Lesenden »tun« will. Philosophische Texte, auch in der europäischen Tradition, zielen bei weitem nicht immer darauf ab, propositionales Wissen zu übermitteln, sondern wollen auch zu einer bestimmten Lebenshaltung anleiten, einen existentiellen Transformationsprozess in der Leserin anstoßen. Je nachdem, was ein Text mit der Rezipientin anstellen will, erfordert er eine bestimmte Lesehaltung. Die Texte enthalten dazu implizit oder explizit Leseanweisungen.
10 Anhand von Übersetzungen des Dôgen-Textes zeigt Elberfeld, wie sie von der vorausgesetzten Textpragmatik und Lektürehaltung abhängen. Tsujimura übersetzt mit dem Ziel, dem Text eine umfassende philosophische Bedeutung zu geben. Wright versteht ihn als Hinweis auf die zen-buddhistische Erfahrung des Erwachens. Es stellt sich also die Frage, ob es sich um einen philosophischen Text handelt, der allgemeine Wahrheiten vermitteln will, oder um einen religiösen Text, der als Leseimpuls für die Praxis des Zen wirkt und nicht als intellektuelle Herausforderung betrachtet werden sollte.
11 Für Elberfeld handelt es sich bei dieser Fragestellung um eine falsche Alternative. Die religiöse und die philosophische Bedeutung gehen bei Dôgen gleichursprünglich hervor und implizieren einander gegenseitig: »Der Text fungiert nicht als eine einfache Auslegung buddhistischer Lehren, aber auch nicht einfach als eine antiintellektualistische spirituelle Anleitung« (155). Dôgen schreibt betont philosophisch und religiös zugleich, »da es gerade anhand der philosophischen Analyse darum geht, jeden einzelnen in die Leerheit seines eigenen Grundes zurückzuführen, um so ›Erwachen‹ im buddhistischen Sinn zu evozieren« (155-156). Im Anschluss an antike und mittelalterliche philosophische Textpragmatiken ist der Text also jenseits der Alternative von religiös/spirituell oder philosophisch auszulegen.
12 Ich halte das für eine der wichtigen Einsichten von Elberfelds Studie, die für die interkulturelle Auseinandersetzung mit asiatischen Texten, aber auch für den philosophischen Binnendiskurs in Europa sehr zu beherzigen ist. Bei Dôgen wird Philosophieren zum Medium und zur Übung des Erwachens. Mit der Betonung des intellektuellen Nachvollzugs wird nicht einer trocken historisierenden oder abgehobenen intellektualistischen Lesart das Wort erteilt. Der Text wird gerade durch die Strenge des Denkens in seinem spirituellen Anspruch ernst genommen.

Tradition buddhistischer Zeitphilosophie

Nāgārjuna
(2. Jh.)
The Internet Encyclopedia of Philosophy.
external linkBiographie


Seng Zhao
(378-413)
The Internet Encyclopedia of Philosophy.
external linkBiographie


Fazang
(643-712)
By Alan Fox.
external linkBiographie
13 Im folgenden Abschnitt über Dôgens wirkungsgeschichtliche Voraussetzungen gelingt es Elberfeld überzeugend, einen Traditionsstrang buddhistischer Zeitphilosophie aufzuzeigen, der von Nāgārjuna bis zu dem japanischen Philosophen reicht. Damit wird der kṣanika-Theorie der Zeit, also der Lehre von der Augenblicklichkeit alles Seienden, die oft als konkurrenzlos dominierende Linie buddhistischen Zeit-Denkens dargestellt wird, eine starke Form mahayanischen Zeitdenkens an die Seite gestellt.
14 Nāgārjuna vertritt die radikale Substanzlosigkeit der Zeit. Zeit ist kein Seiendes mit Eigensein, das kategorial bestimmbar wäre. Es gilt vielmehr einzusehen, dass sie nicht in einem gegenständlichen Wissen ergriffen werden kann. Über diese negative Einsicht hinaus wird das Phänomen der Zeit bei ihm kaum positiv erschlossen.
15 Anders verhält es sich bei Seng Zhao, dem ersten eigenständigen buddhistischen Zeitphilosophen auf chinesischem Boden. Er expliziert die radikale Negation substantiell existierender Zeit positiv in einem Denken der Zeit als Ineinandersein von Ruhe und Bewegung. Die Aufdeckung der Stille und ruhenden Gegenwart mitten in der Bewegung dient dazu, das Eins-Sein von nirvāṇa und saṁsāra konkret zu erfahren. Die immerwährende Gegenwart lässt alles, was ist, anwesen, auch das Vergangene, das gerade als vergangen unverrückbar gegenwärtig bleibt. Als Dimension des Anwesen-Lassens ist Gegenwart zugleich immer Gegenwart der vielen Gegenwarten von diesem und jenem jeweils Gegenwärtigen. Die Frage nach dem Verhältnis der Zeitmodi zueinander findet Elberfeld bei Seng Zhao nur ungenügend behandelt. Besonders der Zeitmodus der Zukunft bleibt unthematisiert.
16 Fazang hilft diesem Mangel ab. Er entwirft ein relationales Modell der Zeiten, das alle Zeitmodi ineinander verschränkt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben selbst jeweils wieder Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sodass sich insgesamt neun Zeiten ausdifferenzieren, die kraft des Bezugs auf die anderen Zeiten sie selbst sind. Das Ineinssein der neun Zeiten geschieht als zehnte Zeit, die als »Gedankenaugenblick« gekennzeichnet wird, in dem die Zeit als Zeit je neu im gegenwärtigen Vollzug hervorgeht. »Wenn ich so die eine Zeit als alle Zeiten vollziehe, bin ich selber Zeit und damit unvergänglich als Vergänglichkeit, wodurch die Zeit in der Zeit als Zeit ihren Stachel im Sinne der Leiderzeugung verliert« (216).

Dôgen: »Übung des Zeitlichseins«

Dôgen
enlargeEihei Dôgen Kigen
(1200-53)
external linkBiographie
17 Die Ansätze seiner Vorgänger werden von Dôgen aufgenommen und weiter gedacht. Er geht noch betonter von den konkreten Wirklichkeiten aus, die jeweils ihr Sein als Zeitgestalt vollziehen. Seine gesamte Zeitphilosophie steckt in dem Wort uji, das auch den Titel des von Elberfeld übertragenen und kommentierten Kapitels aus dem Shôbôgenzô bildet.
18 Dieses Wort verbindet zwei Ebenen miteinander: zum einen ist es die allgemeinste Bezeichnung für das Erscheinen von ›Wirklichsein‹ überhaupt und zum anderen ist genau dies immer nur als radikal konkreter Vollzug gegeben, nämlich als ein ganz bestimmtes uji. Aus europäischer Perspektive könnte man das als radikal temporal fundierte erste Philosophie verstehen. (339)
19 Man hat versucht, uji mit »zuweilen« oder »zu einer Zeit« zu übersetzen. Elberfeld paraphrasiert mit »Es gibt eine Zeitphase bzw. Zeitspanne (in der etwas Bestimmtes geschieht)« (224). Das Wort deutet bei Dôgen einerseits darauf, dass alles Seiende je zu seiner Zeit geschieht. Die Zeit selbst gibt es nur als Zeit von bestimmten Gegebenheiten. »Aber in jeder einzelnen Zeit sind nicht nur alle anderen Zeiten impliziert, sondern auch jedes Seiende und damit die ganze Welt« (255). Die jeweilige einzelne Zeit einer Gegebenheit lässt die Zeit als Ganze anwesend sein.
20 Im Unterschied zu Fazang werden, so Elberfeld, die Zeiten bei Dôgen nicht sprunghaft im Rahmen eines eher statischen Relationssystems vermittelt, sondern durch den jeweiligen Ereignisverlauf. Dieser Verlauf kennt nicht etwa bloß eine Richtung, wie es das Bild von der Zeit als Fluss nahe legt (aus der Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit), sondern er hat in sich verschiedene Zeitrichtungen: von heute nach morgen, von heute zu gestern, von gestern nach heute, von heute zu heute und von morgen nach morgen. Eine separate zehnte Zeit, in der das Ineinander aller Zeiten erscheint, nimmt Dôgen nicht an. Der konkrete Ereignisverlauf bindet die Zeiten zusammen, er »verschluckt« gewissermaßen jede andere Zeit und gibt sie zugleich frei (262). Das Erwachen aus der Welt des Leidens ist nichts anderes als Wachwerden für dieses Geschehen, »Übung des Zeitlichseins« (310). Man übt sich darin, so zu leben, dass die Zeit als Zeit, d.h. das Anwesen aller Zeiten und damit der Welt im Ganzen im gerade gegenwärtigen ereignishaften Verlauf von sich selber her in Erscheinung treten kann. Dôgen sagt dazu in dem Kapitel »Zenki« des Shôbôgenzô:
21 Leben ist, wie wenn jemand in einem Boot dahingleitet. Auf diesem Boot gebrauche ich ein Segel und lenke mit dem Ruder. […] Indem ich in dem Boot dahingleite, lasse ich dieses Boot Boot sein. Diese richtige und treffende Zeit ist auszuprobieren und inständig zu lernen. In dieser richtigen und treffenden Zeit ist das Boot niemals nicht die Welt. Himmel wie Wasser wie Küste sind alle die Zeitweilen des Bootes. […] Beim Boot Fahren [!] ist Leib und Herz-Geist, Umgebung und ich selbst, beides das in sich bewegte Gefüge des Bootes. (245, Übers. von Elberfeld)

Brücken zur europäischen Zeitphilosophie

Erst im 20. Jahrhundert wird der Zeit im Zuge der Metaphysik-Kritik wieder die Bedeutung gegeben, die sie verdient. Dadurch gewinnt Dôgens Zeitphilosophie Gegenwartsinteresse. 22 Im letzten größeren Abschnitt seiner Arbeit schlägt Elberfeld Brücken von den Ergebnissen seiner Analysen der buddhistischen Zeitphilosophie zur europäischen Tradition von Platon bis Heidegger. Die auf zeitlose Wahrheiten ausgerichtete europäische Metaphysik marginalisierte seiner Meinung nach das Zeitproblem. Man tendierte dazu, Zeit als bloßes Akzidens im Bereich der Werdewelt abzuhandeln. Erst im 20. Jahrhundert wird der Zeit im Zuge der Metaphysik-Kritik wieder die Bedeutung gegeben, die sie verdient. Dadurch gewinnt Dôgens Zeitphilosophie Gegenwartsinteresse. Ansätze zu einer Verzeitlichung der Zeit und des Denkens sieht Elberfeld schon bei Augustinus und in Kants Metaphysik-Kritik, die er im Licht der heideggerschen Kant-Interpretation liest. Zeit als Geschichte, wie sie etwa in Hegels Geschichtsphilosophie entfaltet wird, lässt sich als Thema bei Dôgen nicht finden, doch gäbe es Möglichkeiten, den Gedanken des uji in diese Richtung zu erweitern.
23 Besondere Anknüpfungsmöglichkeiten an asiatisches Zeitdenken sieht er in der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts. Husserl stößt mit dem Begriff der strömenden, lebendigen Gegenwart auf einen Ursprungsbereich des Selbstbewusstseins, der nicht reflexiv einholbar ist, ohne jedoch diesen Bereich eines »schöpferischen Nichts« weiter aufzuschließen. Der Verzicht auf das Fassen-Wollen und Objektivieren der Zeit spielt bei Bergson, Merleau-Ponty und Heidegger eine große Rolle und stiftet eine Nähe zur asiatischen Denkhaltung des »Lassens« und besonders zu Dôgen.
24 Hervorgehoben wird diesbezüglich Merleau-Pontys Versuch, die Zeit nicht als Gegenstand des Wissens, sondern als Dimension unseres Seins im Ursprung ihres Erscheinens zu interpretieren. Allerdings bleibt der französische Philosoph dabei, Zeitlichkeit als Subjektivität zu denken, während Dôgen Zeit als Einheit von subjektiver und objektiver Zeit denkt. Bei Heidegger dagegen erscheint die Zeit als »Weltgeschichte«, in die der Mensch selber eingelassen ist. Dieses Geschichtsdenken aus dem Ereignis von Zeit und Sein ließe sich nach Elberfeld am besten mit Dôgens uji verbinden.
25 Insgesamt stellt das Buch eine faszinierende und intensive Auseinandersetzung mit einer bis dato zu wenig berücksichtigten Tradition des Zeitdenkens dar. Die methodische Umsicht, mit der Elberfeld arbeitet, steht der Leidenschaftlichkeit, mit der er um das Verständnis der komplexen buddhistischen Entwürfe ringt, um nichts nach. So gelingt ihm ein bedeutender Schritt in Richtung einer interkulturellen Zeitphilosophie.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 6 (2005).
Online: http://lit.polylog.org/6/rbk-de.htm
ISSN 1616-2943
Quelle: external linkpolylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 13 (2005), 120-124.
Autor: Karl Baier, Wien (Österreich)
© 2005 Autor & polylog e.V.
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