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Wolfgang Tomaschitz

Vom Werden der Demokratie im Weltmaßstab

Zu Michael Hardt & Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire

Aufarbeiten der theoretischen Vergangenheit

Michael Hardt /
Antonio Negri:
Multitude. Krieg und Demokratie im Empire.
Frankfurt/M. – New York: Campus, 2004.
429 Seiten
ISBN 3-593-37410-2
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Campus-Verlag:
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1 Die Autoren machen es spannend in ihrer Beschreibung des Projekts der Multitude, einer sich vage, aber doch erkennbar abzeichnenden »Demokratie im Weltmaßstab«. Multitude ist das Nachfolgewerk von Empire. Die neue Weltordnung (2003) und will sich über die oft entmutigende Analyse dieser Arbeit hinaus der »lebendigen Alternative, die im Innern des Empire entsteht« (9), zuwenden und Wege und Möglichkeiten aufzeigen, die »linke Melancholie« (Neue Zürcher Zeitung) hinter sich zu lassen.
2 In gewisser Weise gelingt das, doch der Leser braucht Geduld. In den ersten Teilen des Buches werden zunächst einmal nicht neue Formen globaler Demokratisierung beschrieben, sondern mögliche Vorformen am Material herkömmlicher anarchistischer und neo-marxistischer Vorstellung abgearbeitet. Die Autoren sind hier eher mit der Aufarbeitung ihrer eigenen theoretischen Vergangenheit beschäftigt als mit der Erhellung des Phänomens tatsächlich möglicher Demokratisierungsprozesse im Weltmaßstab. In diesen Abschnitten wird der Begriff der »Multitude« auf den Klassenbegriff und den Begriff der Volkskultur angewandt, im Kontext unterschiedlicher Widerstandsbewegungen durchgespielt – von den südamerikanischen Guerillabewegungen der 60er und 70er Jahre bis zu den Zapatisten Mexikos und den Tute Bianche der Globalisierungsgegner heute – und in immer neuen Anläufen nach strukturellen Analogien gesucht, die eine polyzentrische, weltweit vernetzte, aber nicht institutionalisierbare Bewegung der Demokratisierung verständlich machen könnten.

Lehre von den politischen Körpern

3 Am deutlichsten wird dieser Versuch in dem langen Kapitel mit dem Titel »De Corpore« (178 ff.). Negri und Hardt knüpfen hier an Hobbes und ältere Theorien an, die in jeder Art gesellschaftlicher Institutionalisierung die Bildung einen »Körperschaft« sahen, eines gemeinsamen »Fleisches«, wie die Autoren es mit Merleau-Ponty nennen. Kurz gefasst lautet ihre These: Ältere soziale Körper lösen sich im Zuge der Globalisierung auf, neue, in ihren Ausmaßen ungeheure und nicht selten gemeingefährliche Körper nehmen Form an. Auch die Multitude könnte ein solcher neuer Körper werden, der, wie alle politischen Körperschaften, als Einheit handelt, zugleich aber – und das ist die Hoffnung – kein politischer Körper im herkömmlichen Sinn ist, sondern als ein von seinen Gliedern gemeinsam Hervorgebrachtes begriffen wird.
4 Die »biopolitische Produktivität der Multitude« oder die »Produktion des Gemeinsamen« (228 ff.) nennen Hardt und Negri diesen Prozess, dem sie einen Staatskörper gegenüberstellen, der durch Reglementierung und Kontrolle geprägt ist. »Wir brauchen«, heißt es dazu, »eine Vorstellung von Privatheit, die die Singularität sozialer Subjektivitäten (nicht das Privateigentum) zum Ausdruck bringt, und eine Vorstellung vom Öffentlichen, die auf dem Gemeinsamen beruht und nicht auf staatlicher Kontrolle.« (229) Es bleibt aber in den ersten beiden Kapiteln, immerhin 250 Seiten lang, bei Spuren, Andeutungen und Postulaten.

Die existenziellen Fragen

»Wir können bereits erkennen, dass die Zeit heute gespalten ist zwischen einer Gegenwart, die schon tot ist, und einer Zukunft, die bereits lebt – und der Abgrund, der zwischen beiden klafft, wird immer größer.«

Michael Hardt /
Antonio Negri
(393)
5 Erst im letzten großen Kapitel (257 ff.) werden dann einige der theoretischen Versprechen konkreter eingelöst. Zunächst werden die Konfliktfelder abgesteckt: öffentlicher Raum, Privatheit, Repräsentation, Souveränität und Biopolitik, also Dispute, die landläufig als politische und theoretische Auseinandersetzungen rund um die Ökologie betrachtet werden. Hier liegen nach Negri und Hardt die am heftigsten umstrittenen und existenziellen Fragen der nächsten Jahre.
6 Im Zentrum ihres Lösungsversuches – soweit man von einem solchen sprechen kann – steht die Vision einer neuen Art von globaler öffentlicher Meinungsbildung, wobei der Begriff »Meinung« zu schwach ist für das, was den Autoren vorschwebt. Die Multitude schafft nicht nur Meinungen, sondern, wie es heißt, »auch und vor allem Kooperation, Kommunikation, Lebensformen und soziale Beziehungen« (373). Auch hier liefern die Autoren einen Vergleich, um zu veranschaulichen, wie wir uns die Swarm Intelligence in den Prozessen öffentlicher Meinungsbildung und Entscheidungsfindung vorzustellen haben. Diese seien in der Weise einer Open-Source-Bewegung zu denken, wie man sie aus der Computersoftwareentwicklung kenne, wo der Quellcode für jedermann zugänglich gemacht werde, damit möglichst viele Menschen ihren Beitrag zur Verbesserung des gesamten Programms leisten können. In einem solchen Modell sei auch die Position des »Souveräns« obsolet, aus der Politik »verbannt«, wie Hardt und Negri schreiben, und für die Multitude erst dadurch die Chance gegeben, »sich selbst zu regieren«. Das klingt schlecht utopisch oder doch sehr modellhaft gedacht.

Öffentlichkeit, Intervention, Aktionismus

7 Allerdings ist diese Art von Produktion von Öffentlichkeit nicht das einzige Instrument, auf das die Autoren bauen, denn das »Gemeinsame« wird ihrer Ansicht nach auch durch handfestere Formen öffentlicher Intervention geschaffen. Nicht von ungefähr wurde in den vorangegangenen Kapiteln des Buches auf die Tute Bianche und die Zapatisten hingewiesen. Unter dem Motto »Es geht heute darum neue Waffen für die Demokratie zu erfinden« (382) wird über aktionistische Möglichkeiten eines »biopolitischen Streiks« oder einer besonderen Art von »Märtyrertum« nachgedacht, in dem der Märtyrer – im Unterschied zu den Selbstmordattentätern von Bagdad und Jerusalem – sich selbst der Gewalt der Mächtigen aussetzt, um »Zeugnis« abzulegen vom Unrecht in der Welt, und um »die Streitkräfte des Empire zu besiegen« (382). Phantastische Vorschläge möchte man sagen, wäre es den Autoren nicht so ernst und würde sich Ähnliches nicht schon tagtäglich ereignen.
8 Trotz aller Unschärfe und Bilderwütigkeit ist Multitude ein Buch, das in gewisser Hinsicht Hoffnung und Perspektive befördert. Zwischen all den Bildern und Analogien zeichnet sich doch die Möglichkeit neuer Aktionsräume und neuer Öffentlichkeiten für eine globale Zivilgesellschaft ab, die in ihren konkreten Projekten wahrscheinlich präziser und sachhaltiger einer »Demokratie im Weltmaßstab« zuarbeitet, als dies der politischen Theorie, einschließlich der von Hardt und Negri, derzeit möglich ist.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 5 (2004).
Online: http://lit.polylog.org/5/rtw-de.htm
ISSN 1616-2943
Autor: Wolfgang Tomaschitz, Wien (Österreich)
© 2004 Autor & polylog e.V.
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