![]() |
![]() literatur · rezensionen
|
themen | literatur | agenda | archiv | anthologie | kalender | links | profil |
Humboldts Denken im aktuellen Diskurs der Moderne |
||||
Ottmar Ette: Weltbewusstsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne. Göttingen: Velbrück, 2002. 243 Seiten ISBN 3-934730-48-5 ![]() Velbrück Bücher & Medien: ![]() |
1 | Alexander von Humboldt, der durch seine Reisen nach Südamerika als der zweite und wahre Entdecker Amerikas gilt, ist trotz seines voluminösen Werkes bereits kurz nach seinem Tod beinahe vergessen worden. Der nationalistische Geist des späten 19. Jahrhunderts konnte für einen Denker, der immer wieder zwischen Berlin und Paris pendelte und als Deutscher wichtige Werke in Französisch schrieb, kaum Verständnis aufbringen. Aber auch heute scheint in dem hochspezialisierten Wissenschaftsbetrieb ein Denker, der in seinem Wirken so unterschiedliche Disziplinen wie Natur-, Geistes- und Kulturwissenschaften, aber auch Literatur und Philosophie in sich vereint, zunächst wie ein Fremdkörper. | ||
2 | Ottmar Ette, einer der renommiertesten Kenner Humboldts im deutschen Sprachraum, hat sich daher zum Ziel gesetzt, Humboldts Denken, das in den letzten Jahrzehnten von einem kleinen Kreis von Spezialistischen intensiv erforscht worden ist, in den aktuellen Diskurs der Moderne einzubringen. Dieses Anliegen kann gerade im Hinblick auf die komplexe Problemmasse einer interkulturellen Philosophie nur begrüßt werden. | |||
3 |
Trotz der Überzeugung, dass Humboldt zu einem »Meisterdenker für das 21. Jahrhundert«(9 u. 230) werden könnte, erliegt Ette nicht der Versuchung einer unkritischen Aktualisierung. Vielmehr wird Humboldts grenzüberschreitendes Weltbewusstsein von vornherein historisch situiert. Ette unterscheidet vier Phasen beschleunigter Globalisierung: Die erste Phase umfasst das Zeitalter der Entdeckungen seit dem späten 15. Jahrhundert; die zweite Phase markiert das Zeitalter der Aufklärung, in dem es seit Mitte des 18. Jahrhundert zu einer zweiten Welle von Entdeckungsfahrten gekommen ist, die nicht nur die Kartografie veränderte, sondern auch die Leitlinien für die koloniale Ausbreitung Europas und der USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorzeichnete, die die dritte Phase der Globalisierung ausmacht; die vierte Phase setzt nach Ette mit den neuen Kommunikationstechnologien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein. |
|||
Humboldts »Weltbewusstsein« |
||||
4 |
Humboldts Denken ist Teil und zugleich kritische Antwort auf die zweite Phase der Globalisierung: Teil, insofern die Amerika-Reise (1799-1804) und die russisch-sibirische Reise (1829) Humboldt in jene Gebiete führten, für die sich »auch das europäische Kapital in besonderer Weise zu interessieren begannen«(31); kritische Antwort, insofern Humboldt seine Forschungen stets in einen ethischen Rahmen stellt, der eine Kritik an der kolonialistischen Expansion enthält. Das Ineinander von Naturbeobachtung und ethisch reflektierter Gesellschafts- und Kulturanalyse macht zweifellos das Spezifikum des humboldtschen Denkens aus, das heute mit den vagen Begriff der Humboldtian Science umschrieben wird, ein Begriff, um dessen inhaltliche Klärung sich Ette bemüht. |
|||
»Damit schließt Weltliteratur notwendig etwas ein, was wir analog zu diesem Terminus als Weltbewusstsein bezeichnen können, das in Analogie zu Welthandel oder Weltverkehr … ein komplexes Verbundensein darstellt.« Ottmar Ette (70) |
5 | Im Unterschied etwa zu Meyer-Abich, der primär Humboldts Naturverständnis, wie es in seinem späten Hauptwerk Kosmos definitiv vorliegt, gegenüber dem mechanistischen Weltbild der modernen Naturwissenschaften würdigt, legt Ette jedoch den Schwerpunkt auf Humboldts »Weltbewusstsein«, dessen Bedeutung in zwei Teilen entfaltet wird: der erste Ideenkreis, »Wandernde Netze« (11-126), lotet die strukturellen Beziehungen zwischen Wissenschaftsverständnis und Weltbewusstsein aus; der zweite Ideenkreis, »Vernetze Wanderungen« (127-231), zeigt anhand des Reisewerks, wie Humboldt seine Vision einer weltoffenen, Natur und Kultur verbindenden Wissenschaft konkret umsetzt. | ||
6 |
»Weltbewusstsein« setzt nach Ette die Dezentrierung der eigenen Kultur voraus, d.h. »das Begreifen des radikal Unvollständigen der eigenen Kultur und Sprache«(69). Historisch knüpft Ette an Goethes Idee einer »Weltliteratur« an, die aus der Erfahrung der Partikularität der National-Literaturen erwachsen sei. »Damit schließt Weltliteratur notwendig etwas ein, was wir analog zu diesem Terminus als Weltbewusstsein bezeichnen können«, das wiederum »in Analogie zu Welthandel oder Weltverkehr … ein komplexes Verbundensein, welches das Eigene (etwa das eigene Schreiben) mit dem Anderen (dem Schreiben in anderen Sprachen und Kulturen) verbindet«(70). Vor diesem Hintergrund werden Errungenschaften und Grenzen der Humboldtschen Wissenschaft aufgezeigt. |
|||
Interkulturelle Perspektiven und eurozentrische Verengungen |
||||
![]() Alexander von Humbold (1769-1859) ![]() |
7 |
Im Unterschied zu den Aufklärungsphilosophen des 18. Jahrhunderts spekuliert Humboldt nicht bloß über eine weltbürgerliche Denkungsart, sondern verlässt auch realiter den europäischen Horizont. In der »Not«, die erfahrene Fremdheit vor Ort und in aller Konkretheit deutend zu verarbeiten, entwickelt er ein breites Instrumentarium von wissenschaftlichen und literarischen Beschreibungsarten, das Ette einfühlsam rekonstruiert und begrifflich als »transdisziplinär« qualifiziert, weil es nicht bloß von einer Disziplin ausgehend den Dialog mit anderen Disziplinen anstrebe, sondern von vornherein »eine wechselseitige Erhellung unterschiedlich ›disziplinierter‹ Wissensgebiete sucht«(79). |
||
8 |
Auf kulturphilosophischer Ebene bleibt Humboldts Denken jedoch trotz der großen Leistung seiner Reiseberichte, die das Amerikabild völlig verändert haben, von eurozentrischen Verengungen nicht verschont. Mit den Fortschrittstheoretikern teilt er noch einen naiven Glauben an die völkerverbindende Funktion des Handels, und wie bei Goethes Idee der Weltliteratur so steht auch bei Humboldt die Vorbildhaftigkeit der Kultur der griechisch-römischen Antike außer Frage. Daher geht es Humboldt nach Ette noch nicht um eine »transkulturelle, zwischen verschiedenen kulturellen Perspektiven oszillierende … Sichtweise, sondern um eine interkulturelle Perspektive, die sich letztlich ihrer eigenen kulturellen Traditionen nicht nur bewusst, sondern von deren Vorrang überzeugt ist«(79). |
|||
9 |
Allerdings zeigen sich bei Humboldt immer wieder Risse im Selbstbewusstsein der Überlegenheit der eigenen Kultur, wie Ette am Beispiel seiner Beschreibungen der Höhlenbegehung von Aturuipe aufzeigt. Humboldt nimmt aus der Höhle, die eine Begräbnisstätte der bereits ausgestorbenen Stammes der Artures ist, für wissenschaftliche Zwecke einige Skelette mit, was, wie er selbst berichtet, bei seinen indianischen Begleitern Empörung hervorruft. Dass und vor allem wie Humboldt den Konflikt zwischen europäischer Wissenschaft und dem religiösen Weltbild der Indianer schildert, ist nach Ette ein Zeugnis dafür, dass Humboldt »die Aporien des europäischen Moderne-Projekts«und die »Widersprüche und Grenzen«seines eigenen Wissenschaftskonzepts »nicht nur erahnte, sondern erkannte und vorsichtig – gleichnishaft – darzustellen versuchte«(189). In diesem Sinne sprengt, wie Ette zu Recht resümiert, die Humboldtsche Wissenschaft trotz ihrer Grenzen nicht nur den Horizont der zweiten Phase der Globalisierung, sondern stellt zugleich »eine gewaltige Herausforderung für unsere Zeit«(230) dar – und man kann hinzufügen: für das gegenwärtige Philosophieren. |
themen | literatur | agenda | archiv | anthologie | kalender | links | profil |