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Auf der Suche nach einem archimedischen Punkt universalistischer Ethik |
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Antonio Salamanca Serrano: Yo soy guardián mundial de mi hermano. Hacia la universalización ética de la opción por el pobre desde el pensamiento de K.-O. Apel, E. Dussel y X. Zubiri. Frankfurt/M. – London: IKO, 2003. (Denktraditionen im Dialog: Studien zur Befreiung und Interkulturalität 18) 308 Seiten ISBN 3-88939-707-7 ![]() Verlag für Interkulturelle Kommunikation: ![]() |
1 | Die Debatte, die Karl-Otto Apel und Enrique Dussel in den 90er Jahren als Vertreter der Diskursethik und der Befreiungsethik miteinander geführt haben, war sicherlich ein ganz entscheidender Schritt auf dem Weg zur Ausbildung einer interkulturellen Philosophie. Im Zentrum dieser Debatte stand von Anfang an die Frage nach der Ausarbeitung und Begründung einer universalistischen Ethik. Wie muss eine universalistische Ethik angelegt sein, dass die von ihr verfochtenen absoluten Normen ein auch für die praktische Lebenswelt effektives Instrument in der Auseinandersetzung mit den herrschenden sozialhistorischen Bedingungen sein können? | ||
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Antonio Salamanca Serrano knüpft mit seinem Buch, dessen Titel man so übersetzen könnte: »Ich bin der Hüter aller meiner Brüder auf der Welt«, genau an diese Fragestellung an. Sein Ausgangspunkt ist die Suche nach einem »archimedischen Punkt«(16) universalistischer Ethik, von dem her die zerstörerischen Ansprüche eines skeptischen, zynischen und tyrannischen Irrationalismus zurückgewiesen werden können. Der Autor gewinnt seine Antwort aus einer Auseinandersetzung mit den Positionen Apels und Dussels, in deren Debatte er als fiktiven dritten Gesprächspartner den spanischen Philosophen Xavier Zubiri einführt. |
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Komplementarität von Diskurs- und Befreiungsethik |
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3 | Mit großer Sorgfalt und Umsicht stellt der Autor die Positionen Apels und Dussels im Detail dar und zieht eine vergleichende Bilanz. Abgesehen von allen nicht zu übersehenden Unterschieden sind für ihn Diskursethik und Befreiungsethik komplementäre Versuche universalistischer Ethik. Als deren wichtigste Gemeinsamkeiten benennt er den philosophischen Ansatz bei der Ethik als primärer Philosophie, die enge Verwandtschaft der hermeneutischen Theoreme der ›Interpellation des Armen‹ mit dem ›diskursiven Verfahren‹, den Grundimpuls eines emanzipatorischen humanistischen Neomarxismus und die Frontstellung gegen Skeptizismus und Zynismus. | |||
4 | Diskursethik und Befreiungsethik könnte man in dieser Perspektive als formale und materiale Varianten universalistischer Ethik bezeichnen, die einander hervorragend ergänzen. An dieser Stelle stehen zu bleiben hieße aber, alle Unterschiede zwischen Diskursethik und Befreiungsethik als akzidentielle Bestandteile abzuwerten. So gut auch die Prinzipien ›Befreiung‹ und ›Kommunikation‹ einander ergänzen, die Grundstrukturen von Befreiungsethik und Diskursethik sind nicht einfach miteinander kompatibel. Salamanca Serrano weist darauf hin, dass beide Ethiken sich ganz wesentlich in ihrem Verständnis von Rationalität unterscheiden. | |||
5 | Zentriert um die Erfahrung des Anderen läuft das Rationalitätskonzept der Befreiungsethik aus Sicht der Diskursethik Gefahr, eklektizistisch zu werden, einem naturalistischen Fehlschluss zu verfallen und ideologisch im revolutionären Kampf instrumentalisiert zu werden. Umgekehrt steht das Rationalitätskonzept der Diskursethik aus Sicht der Befreiungsethik in Gefahr, im Formalismus zu verharren, die herrschenden Ungleichheiten zu übersehen und idealistisch die Widersprüche zwischen realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft zu übergehen. Es sind genau diese Widersprüche zwischen Befreiungsethik und Diskursethik, die Salamanca Serrano durch den Rückgriff auf das Rationalitätskonzept von Zubiri überwinden will. Anders ausgedrückt: Das Prinzip ›Befreiung‹ und das Prinzip ›Kommunikation‹ sollen durch das Prinzip ›Wahrheit‹ neu begründet und miteinander zum Ausgleich gebracht werden. | |||
Der Akt der Wirklichkeit bei Xavier Zubiri |
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»So wie das Subjekt unhintergehbar ist, um die Wirklichkeit zu erkennen, auf dieselbe Art und Weise ist die Wirklichkeit unhintergehbar.« Xavier Zubiri (Salamanca Serrano, 136) |
6 | Xavier Zubiri (1898-1983) begann sein Werk im Gefolge von Husserls Phänomenologie. Die reine Beschreibung der Dinge im Sinne des Impulses »Zu den Sachen selbst« überwand Zubiri im Heideggerschen Sinn durch eine Ontologie, in der sich die Dinge in der Wirklichkeit vom Sein her erschließen lassen. Diese heideggersche Ontologie radikalisierte er dann auf eine dem Anliegen von Emmanuel Levinas verwandte Art und Weise, indem er auf eine dem Subjekt begegnende Alterität des Anderen jenseits des Selbst zurückgriff. Die Ontologie verwandelt sich in eine Metaphysik, welche die im Handeln verwirklichte Wirklichkeit analysiert. | ||
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Zubiris Anliegen besteht nach Salamanca Serrano darin, eine »authentische philosophia perennis«(130) zu entwickeln. Kernbegriff von Zubiris Philosophie ist der »Akt der Wirklichkeit«(136), in dem Wissen und Wirklichkeit zusammenkommen. Der Grundsatz des von Zubiri so genannten Reismus lautet: »So wie das Subjekt unhintergehbar ist, um die Wirklichkeit zu erkennen, auf dieselbe Art und Weise ist die Wirklichkeit unhintergehbar.«(136) Aus der Gleichursprünglichkeit von Wissen und Wirklichkeit folgt, dass sich das Subjekt im Akt der Wirklichkeit als eine Art Passivität erweist. Das Selbst ist »Offenheit«(141, 166) auf Anderes hin. Diese Offenheit denkt Zubiri als metaphysische Transzendentalität, welche, in Entgegensetzung zu Kant, das Offensein auf die Transzendenz eines Jenseits als Bedingung der Möglichkeit von Wissen und Wirklichkeit meint. Der Akt der Wirklichkeit, welcher die Offenheit realisiert, gilt Zubiri als moralischer Akt, weil sich die dem Subjekt begegnenden Möglichkeiten immer schon als gute oder böse Möglichkeiten präsentieren, zwischen denen das Subjekt wählt. Im Akt der Wirklichkeit als fortschreitender Verwirklichung bewährt sich der Wille des Subjekts. Vernunft ist Teil dieses umfassenden Willens. |
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8 | Für Salamanca Serrano bezeichnet dieser moralische Akt der Wirklichkeit im Sinne Zubiris die Struktur, welche der aus der Theologie und Philosophie der Befreiung bekannten Option für die Armen zugrunde liegt, wie sie auch Dussels Befreiungsethik vertritt. Diese Option ist als Formel eines ethischen Universalismus aber sozusagen nicht nur Ausdruck einer anthropologischen Dimension des Subjekts, sondern auch Ausdruck seiner theologischen Dimension. Die Option für die Armen ist Ursprung, Urteil und Vollendung der Religion. Sie ist der Punkt, in dem biblisch gesprochen, Gottes- und Nächstenliebe zusammenfallen. | |||
Alteritätskonzepte wider die Autonomie des Subjekts? |
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Roberto Hernáez: »Xavier Zubiri (1898-1983)«. In: Proyecto Ensayo Hispánico. ![]() Fundación Xavier Zubiri (Madrid) ![]() Xavier Zubiri Foundation of North America (Washington) ![]() |
9 | Das Verdienst von Salamanca Serranos Arbeit scheint mir darin zu liegen, dass er das Rationalitätskonzept von Befreiungsethik und Diskursethik auf den Prüfstand stellt. Zubiris Philosophie bietet hierzu einen sinnvollen Bezugspunkt, zumal sie von Dussel in seinem Konzept rezipiert wurde, worauf Salamanca Serrano auch ausdrücklich hinweist (127-129). Der bei Zubiri leitende Begriff von Wahrheit als Erschlossenheit im Sinne Heideggers dient als Ausgangspunkt für recht unterschiedliche Konzepte von Alterität, wie sie beispielsweise bei Levinas, Merleau-Ponty, Derrida, Waldenfels u.a. vorgedacht werden. | ||
10 | Das Schibboleth all dieser Ansätze scheint mir allerdings die Frage zu sein, inwieweit ihr Begriff von Alterität mit dem Begriff der Autonomie kompatibel ist. Bei Zubiris Begriff vom moralischen Akt der Wirklichkeit scheint dies ein kritischer Punkt zu sein. Denn wenn die Offenheit auf Wirklichkeit dem Subjekt einfach vorgegeben ist, welche Bedeutung hat dann noch die Rationalität des Subjekts? Wird sie nicht zum einfachen Nachvollzug dessen, dem sie in ihrer Passivität nicht ausweichen kann? Und würde diese Vorstellung nicht den Gedanken autonomer Subjektivität in seiner Wurzel antasten? | |||
11 | Ich denke, an dieser Stelle ist auch die affirmative Verbindung zu Apels Diskursethik, wie sie Salamanca Serrano unterstellt, nicht mehr gegeben, denn Apels Diskursethik dürfte sich weder in dem Begriff der Offenheit als Willen noch in der Verbindung zur Religion wiederfinden. Lohnend ist aber eine Auseinandersetzung mit Zubiris philosophischem Ansatz allemal, denn die Einsicht, dass auch das autonome Subjekt nicht einfach »Herr im eigenen Hause« ist, gehört inzwischen zum Grundbestand postmodernen Philosophierens. Zum Schluss sei noch das Fehlen eines Literaturverzeichnisses in dem sonst vorbildlichen Buch beklagt, welches gerade für eine Rezeption von Zubiris Denken hilfreich gewesen wäre. |
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