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Georg Maißer

Lassen sich Kriege rechtfertigen?

Zu Georg Meggle (Hg.): Humanitäre Interventionsethik. Was lehrt uns der Kosovo-Krieg?

Ein Einstieg in die deutsche Debatte zum Kosovo-Krieg

Georg Meggle (Hg.):
Humanitäre Interventionsethik.
Was lehrt uns der Kosovo-Krieg?

Paderborn: Mentis, 2004.
290 Seiten
ISBN 3-89785-390-6
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Mentis Verlag:
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1 Bei der großen Zahl und den unterschiedlichen Interessen der Autoren – es ist eine reine Männerriege, die hier versammelt ist – ist der rote Faden in dem von Georg Meggle herausgegebenen Tagungsband nicht leicht zu finden. Dem philosophischen Laien mag er eine Reihe guter Ratschläge bieten, aber insgesamt doch wenig Handfestes. Eine der wenigen Ausnahmen stellt der Beitrag von Johann Galtung mit seinem Plädoyer dar, sich die Handlungsmöglichkeiten nicht unnötig verknappen zu lassen. Als Einstieg in die deutsche Debatte über den Kosovo-Krieg ist das Buch sicherlich geeignet; die Bandbreite der Positionen reicht von Ulrich Steinvorths Argumentation für eine Intervention bis zu Rüdiger Bittners Gebot des Zweckpazifismus. Allerdings fehlt ein Vertreter oder eine Vertreterin der Habermasschen Linie, die nur des öfteren als Referenz, an der sich gerieben wird, Erwähnung findet.
2 Es wurde der Versuch unternommen, die Diskussion relativ praxisnah zu führen. So haben sich die meisten Autoren ganz im Sinne einer angewandten Philosophie darum bemüht, zu einer konkreten Aussage dazu zu kommen, ob der Kosovo-Krieg gerechtfertigt war beziehungsweise ob eine Pflicht für oder gegen humanitäre Interventionen im Allgemeinen besteht. Dass dabei bisweilen der Verweis auf frühere Argumentationen des jeweiligen Autors gerade an besonders wenig einleuchtenden Stellen die konsequente philosophische Überlegung ersetzt, ist in Anbetracht der gebotenen Kürze der Beiträge verständlich, aber für das Verständnis doch ein wenig erschwerend.
3 Die Diskussionen entspannen sich hauptsächlich rund um die Frage, unter welchen Umständen unschuldige Tote in Kauf zu nehmen sind und ob diese Umstände in den jeweils konkreten historischen Einzelfällen gegeben waren oder nicht. Der Eröffnungsbeitrag von Ulrich Steinvorth geht in dieser Hinsicht am weitesten, weil er sich klar für den Kosovo-Krieg ausspricht und den Tod von Unschuldigen als moralisch gerechtfertigt ansieht. Die Klarheit der Position ist insofern eine erfreuliche Tatsache, als hier die Ideale der Philosophie einmal die Wirklichkeit erreichen können, und zwar nicht nur in historisch weit zurückliegenden Fällen mit wohl abgesicherten Interpretationsmustern.

Einwände gegen den Konsequentialismus

Der Band veröffentlicht eine Auswahl von Beiträgen zur internationalen Tagung Humanitäre Interventionen ./. Ethik, die von 9. bis 12. Januar 2002 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld stattfand.
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4 Bei Steinvorth hat die Philosophie keine Angst, sich schmutzig zu machen. Der Weg dorthin führt über Annahmen wie folgender: »Nicht die Motivation entscheidet über die Legitimität von Kriegen, sondern die Folgen.« (21) Dieser Satz wird polemisch gegen Chomsky vorgebracht, doch leider erklärt Steinvorth nicht, mit welcher Sicherheit er diese kontroverselle Aussage tätigt.
5 Steinvorth geht in seinen streng konsequentialistischen Erwägungen noch weiter: »Die Regeln in bello lassen sich im Prinzip der Verhältnismäßigkeit von Kriegsmitteln und Kriegszielen zusammenfassen. Welche Mittel erlaubt sind, hängt von der Schwere der Verbrechen ab, die der Krieg verhindert. Daher lässt sich nicht streng zwischen Regeln ad bellum und in bello unterscheiden. Die Gräuel, zu deren Verhinderung ein Krieg geführt wird, müssen extrem sein, wenn sie den Einsatz von Kernwaffen rechtfertigen sollen. Sind die Gräuel weniger extrem, kann nur der Gebrauch weniger destruktiver Waffen gerechtfertigt sein.« (25)
6 Olaf L. Müller greift in seinem Beitrag Steinvorths Vorlage auf und retourniert folgendermaßen: »Wer irgendeines dieser verantwortungsethischen Kriterien (mit wesentlich konsequentialistischen Elementen) zur moralischen Bewertung eines tatsächlich geplanten Kriegseinsatzes heranziehen will, der muss sich dabei auf Fakten stützen, die er zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht kennt. Kurz, in der Praxis überfordern uns verantwortungsethische Kriegskriterien; sie lassen sich nicht seriös anwenden.« (61)
7 Ein Einwand, den man in zwei Richtungen ausbreiten könnte: Ist die geforderte seriöse Anwendung innerhalb von Moraltheorien vielleicht eine falsche Bedingung in Situationen, in denen die Not Handeln gebietet? Könnte es sein, dass sich eine Theorie der Moral eher mit den unseriösen Handlungsmotivationen beschäftigen sollte? Die andere Richtung der Bearbeitung könnte dazu führen, die Akteure mit ihrem Hintergrund in einer offenen Zukunft und ihren eigenen moralischen Urteilen und ihrer determinierten Freiheit philosophisch zu denken und die gängigen Moraltheorien daraufhin zu befragen, ob ihre Akteure diesen Kriterien gerecht werden. Müller entscheidet sich gegen derartige Perspektiven und für einen Appell mit messianischer Eindringlichkeit: »Ich finde, wir sollten uns anstrengen, die Welt im Lichte positiver Wertungen zu sehen – pathetisch gesagt: im Lichte einer verzweifelten Menschenliebe. (Verzweifelt deshalb, weil in der Welt zu viel Blut fließt.)« (89)

Der Wert des menschlichen Lebens

»Das Leben der Bedroher zählt, verglichen mit dem Leben eines Unschuldigen, gar nicht.«

Walter Pfannkuche
(137)
8 Vor allem die Diskussionen um den Wert des menschlichen Lebens sind von besonderem Interesse. Bei Steinvorth und seiner streng konsequentialistischen Theorie werden im Wesentlichen Leben gezählt und gegeneinander abgewogen, wobei der »moralischere« Akteur signifikant weniger Leichen produziert. Walter Pfannkuche schreibt zu diesem Thema: »Das Leben der Bedroher zählt, verglichen mit dem Leben eines Unschuldigen, gar nicht. Es zählt nur insofern, als man nicht mehr Übel zufügen darf, als zur Abwendung der Bedrohung notwendig ist.« (137)
9 Rüdiger Bittner nimmt sich in der Folge der nicht unwesentlichen Frage an, wer nun Unschuldiger und wer Bedroher ist. Er ein möchte Kriterium, ob man nun mit Recht den Finanzbeamten (Bittner: Nein) oder die Sekretärin der Heeresverwaltung (Bittner: Ja) töten darf. Er argumentiert dabei, als könnte er objektiv moralisches Wissen produzieren und als entstünden alle Unsicherheiten nur aus den Unzulänglichkeiten der handelnden und urteilenden Akteure.

Dekonstruktion normativer Urteile

»Die Menschenrechts-
anerkennung ist unsere moderne Zivilreligion.«

Harald Wohlrapp
(189)
10 Harald Wohlrapp wendet sich gegen eine derartige Argumentation. Er misstraut der Begründung mit normativen Urteilen, weil sich darin »unversehens das Interesse breitmacht« (187), und sieht, dass das moralische Recht im Reich von absoluter Vernunft und objektiven Urteilen kein einseitiges Geschäft ist: Des einen Recht ist des anderen Pflicht. Dem setzt er ein nur subjektives und noch dazu von Interessen beeinflusstes Wissen entgegen.
11 Dazu muss er zuerst die Idee der Menschenrechte dekonstruieren: Er verweist auf deren theologischen Hintergrund und ihre Gemachtheit: »Dieses Gotteskindschaftsbewusstsein, das ist der Vorgänger unserer modernen menschenrechtsbewussten Individualität.« (186) Eine neue Interpretation dieser ursprünglich theologischen Idee muss sich nach Wohlrapp einer wesentlichen Infragestellung stellen: »Im säkularen Menschenrecht wird aus dem Verhältnis des Menschen zum göttlichen Gegenüber, welches asymmetrisch war (und sein musste) ein symmetrisches Verhältnis der Anerkennung zwischen den Menschen.« (188) Dabei geht der Status des theologischen Wissens verloren. Nunmehr müssen sich die Menschen mit einem Glauben an die reziproke Anerkennung der Menschenwürde zufrieden geben. Erst in der Praxis dieses Glaubens kann eine Kultur des Vertrauens entstehen: »Die Menschenrechtsanerkennung ist unsere moderne Zivilreligion.« (189)
12 Ausgerechnet mit dem britischen Utilitaristen Henry Sidgwick kritisiert Wohlrapp gegen Ende sehr treffend den versteckten moralischen Intuitionismus seiner Kollegen. Auf die hoch brisanten Fragen, die er stellt, gibt er eher konventionelle Antworten. Eigenartig ist auch, dass er einerseits zwar das soziale Konstrukt der Menschenrechte so treffend als »moderne Zivilreligion« bezeichnet, andererseits die Konsequenzen einer möglichen Nichtanerkennung, die Folgen für die auf allgemeine Rechte aufbauende Moral und ähnliche Fragestellungen nicht durchdenkt. Was etwa würde in seiner Sicht dann Religionsfreiheit bedeuten?
13 Walter Pfannkuche gibt sich skeptisch, was humanitäre Interventionen betrifft, und er nennt dafür vor allem praktische Gründe: Wie soll die Abwägung des Wertes des Lebens von Bedrohten, Bedrohern, Unbeteiligten und Intervenierenden vorgenommen werden? »Sodann müssen die originären und die beim Helfen erzeugten Übel miteinander verglichen werden.« (138) Nachdem Pfannkuche diese und andere Situationen unmöglicher theoretischer Abwägungen aufgezählt hat, entscheidet er sich dennoch dafür, so zu argumentieren, als wären diese Fragen theoretisch lösbar, als läge die aktuelle Unbeantwortbarkeit nur an unserem heutigen Stand der philosophischen Technik. Aus dieser »Was-wäre-wenn-Konstruktion« findet Pfannkuche am Ende einen kreativen Ausweg: »Ich denke es wäre vernünftiger, wir machten uns durch friedliche Hilfen zur Vermeidung humanitärer Katastrophen so arm, dass wir über militärische Humanitäre Interventionen nicht mehr nachzudenken brauchten, weil wir dafür keine Mittel mehr haben.« (145)

Zur vermeintlichen Objektivität in der Philosophie

»Am Ende bleibt die selbstkritische Frage, was man als Moralphilosoph eigentlich macht, wenn man am Schreibtisch in Deutschland darüber schreibt, unter welchen Umständen es richtig oder falsch ist, dass andere Menschen irgendwo in der Welt Krieg führen.«

Ralf Stoecker
(178)
14 Während so die einzelnen Beiträge des Bandes ihre eigene Plausibilität haben, ergibt sich im Ganzen ein zwiespältiges Bild. Das eigentliche Problem scheint mir, dass die Autoren nicht ihre teilweise sehr interessanten Meinungen zum Thema, sondern ihre logisch einwandfreien Schlüsse präsentieren wollen. Steinvorth etwa sichert sich folgendermaßen rhetorisch ab: »Wenn diese Geschichte wahr ist, ist zweierlei richtig.« (21) Besonders bemerkenswert dabei ist, dass die relativ homogene Gruppe von deutschsprachigen, männlichen Philosophen mit praktisch gleichem kulturellen Hintergrund (und wahrscheinlich ähnlichem sozialen) angesichts der gleichen Faktenlage mit Hilfe ihrer strengen Methoden gänzlich unterschiedliche Meinungen als wissenschaftliche Ergebnisse ausgeben: von der Pflicht zur Intervention mit Akzeptanz von unschuldigen Toten bis zum unbedingten Interventionsverbot, weil Unschuldige Tote nie gerechtfertigt sein können.
15 Das Problem besteht nicht in der Unterschiedlichkeit der Meinungen der Autoren, sondern im Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit ihrer logischen Methode. Für die Autoren scheint Philosophie darin zu bestehen, logisch richtige Schlüsse aus möglichst objektiven Beschreibungen der problematischen Situationen zu ziehen, um daraus Handlungsschablonen zu generieren. Konsequent wird auch laufend die schlechte Faktenlage, vor allem im Moment des tatsächlichen Geschehens, bedauert, und man möchte fast meinen, dass darin das Hauptproblem der heutigen Ethik läge. Diese Haltung wird damit unfreiwillig zu einem Plädoyer an die Geheimdienste und die Waffenindustrie, doch endlich die Präzision zu liefern, welche dann die Philosophie in die Lage versetzen wird, endgültig und unumstößlich über moralisch lebens- und vernichtenswertes Leben zu entscheiden. Dass dabei aber die Philosophie mit der Erfindung und Proklamierung von objektiver Exaktheit sich selbst das Wasser abgräbt, wird in diesem Buch besonders deutlich. Die philosophischen Probleme werden nur angedacht und dann auf empirische Unzulänglichkeit zurückgeführt.
16 Ein Ende eines irreführenden »olympischen Anspruchs« an die Philosophie, also im Sinne von »genauer« (für die Fakten), »logischer« (für die Schlüsse) und »besser« (im moralischen Sinne von »gut«), ist mit diesem Buch sicher nicht abzusehen. Nur selten werden die ausgetretenen Pfade verlassen, um tradierte Denkweisen aufzuzeigen und in Frage zu stellen. »Am Ende bleibt die selbstkritische Frage, was man als Moralphilosoph eigentlich macht, wenn man am Schreibtisch in Deutschland darüber schreibt, unter welchen Umständen es richtig oder falsch ist, dass andere Menschen irgendwo in der Welt Krieg führen.« (178) Leider wurde die Beantwortung dieser grundlegenden, von Ralf Stoecker gestellten Frage in diesem Buch verabsäumt, und nur von Harald Wohlrapp und in Ansätzen von Olaf L. Müller wurde die Problematik zumindest als philosophisch erkannt.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 5 (2004).
Online: http://lit.polylog.org/5/rmg-de.htm
ISSN 1616-2943
Autor: Georg Maißer, Wien (Österreich)
© 2004 Autor & polylog e.V.
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