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Bertold Bernreuter

Denkräumen auf der Spur

Zu Elmar Holenstein: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens

Die geografische Dimension in der Philosophie

Elmar Holenstein:
Philosophie-Atlas.
Orte und Wege
des Denkens
.
Zürich: Ammann, 2004.
301 Seiten
ISBN 3-250-10479-5
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Ammann Verlag:
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1 Elmar Holensteins Werk zu den philosophischen Strömungen rund um die Erde ist eine Sisyphusarbeit. Doch, analog zu Albert Camus' bekannter Interpretation des griechischen Mythos, müssen wir uns Holenstein als einen glücklichen Menschen vorstellen. Die fast ein Jahrzehnt währende Arbeit an dem Philosophie-Atlas wäre ohne eine grundlegende Freude an dem Projekt, neben leidenschaftlicher Beharrlichkeit und äußerster Akribie, gar nicht vorstellbar.
2 Sie verfolgt ein ebenso hohes wie wichtiges Ziel: Der Atlas »will die Dringlichkeit einer nicht nur auf die Zeitachse, sondern ebenso auf den geographischen Raum bedachten Geschichtsschreibung der Philosophie visuell zum Bewußtsein bringen« (22). Dieser dreifachen Zielsetzung (in Historiografie, Geografie und Kartografie) nahe zu kommen, erfordert ein stetes Abwägen, welche Informationen in welcher Form in das Kartenwerk eingearbeitet werden sollen und welche unberücksichtigt bleiben müssen. Kaum ist der Stein mühselig zum Berg eines Philosophen hinaufgerollt, rollt er auch schon zu drei weiteren Namen hinab, denen mit gleicher Berechtigung Aufnahme in den Atlas gebührte. Ist eine philosophische Austauschbeziehung kartiert, erfordert ein halbes Dutzend weiterer ebenfalls ihre Berücksichtigung: Wie prägend war dieser oder jener Briefwechsel, diese oder jene Reise, diese oder jene Übersetzung? Fragen, denen sich Holenstein ständig stellen muss.
3 Doch schränkt er selbst ein: »Ausgewogenheit in der Auswahl der berücksichtigten Orte und Regionen, Personen und Lehrrichtungen ist bei einem Werk des vorliegenden Umfangs nicht möglich.« (23) Er sieht den Atlas nicht als enzyklopädisches Werk, sondern als eine Hilfe bei der Lektüre philosophischer Überblicksliteratur, keineswegs jedoch als deren Ersatz. Er versteht ihn als ein Pilotprojekt – mit allen Unzulänglichkeiten, die das Betreten von wissenschaftlichem Neuland mit sich bringen mag.
4 Neuland ist die geografische Dimension in der Philosophie allemal, trotz ihrer historischen Vorläufer, etwa bei Kant oder Hegel. Obwohl ihre Wichtigkeit für ein Denken, das seinen Kontext explizit bedenken will, eigentlich auf der Hand läge, ist sie nach wie vor ein nahezu unbestelltes Feld; lediglich im angelsächsischen Raum gibt es ernsthafte Initiativen zu einer Verbindung der beiden Disziplinen. Doch auf dem Feld der Philosophiegeschichtsschreibung wächst auch dort kein geografisches Gräslein.
5 Umgekehrt erwacht die kulturelle Dimension in der Geografie, nach einigen ideologischen Verirrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ebenfalls erst seit kurzem zu neuem Leben, wobei wiederum die angelsächsische Geografie mit einer regen Diskussion seit Beginn der neunziger Jahre die Vorreiterrolle innehat. Holenstein nun versucht, sich im Philosophie-Atlas seinem Gegenstand von beiden Seiten zu nähern: Er will nicht nur eine »Geografie der Philosophie«, sondern auch eine »Philosophie der Geografie« betreiben. In jedem Fall regt er zu neuen Entdeckungen an.

Interkulturelle Ausrichtung des Atlasses

»Was ist schließlich ausschlaggebend für die Berücksichtigung eines Philosophen: die Originalität seines Denkens, der wegweisende Einfluß auf einen überragenden Philosophen, der Bekanntheitsgrad zu seiner Zeit, die andauernde Wirkungsgeschichte und Präsenz in den Geschichtsbüchern?«

Elmar Holenstein
(23)
6 Zwei Aspekte in der Darstellung verfolgt er mit besonderem Nachdruck: »die Beziehungen und die typologischen Vergleichsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Erdteilen einerseits und, nur in einem scheinbaren Gegensatz dazu, die Mannigfaltigkeit der intellektuellen Entwicklungen innerhalb der einzelnen Erdteile andererseits« (21). Orientierung bietet dabei der interkulturelle Ansatz des Projektes, in dem eurozentristische Verengungen und Überheblichkeiten aufgebrochen und überwunden werden und der Akzent auf die transkulturelle Bedeutsamkeit und Vermittlerfunktion philosophischer Personen und Sachverhalte gesetzt ist. Viele Überraschungen beim Lesen sind damit vorprogrammiert. Dezidiert Abstand nimmt Holenstein von einem essentialistischen Verständnis von Kulturen, wenn er etwa meint, dass die größten Unterschiede in den philosophischen Ansichten der Menschen keineswegs zwischen den einzelnen Erdteilen, sondern zwischen den Individuen und Schulbildungen innerhalb der einzelnen Erdteile zu finden seien.
7 Im Sinne einer interkulturellen Offenheit liegt dem Atlas ein zeitlich wie disziplinär recht weiter Philosophiebegriff zugrunde. Philosophie beginnt nicht mit der griechischen Antike und endet nicht an der Tür zum Literatur-, Medizin-, Theologie-, oder eben auch Geografieinstitut. Im Atlas sind Dichter ebenso wie Ärzte, religiöse Denker ebenso wie Wissenschaftler berücksichtigt, wenn sie etwas zur Philosophie beigetragen haben oder zu einer Inspirationsquelle für sie geworden sind. Da fehlt selbst James Watt, der Erfinder der Dampfmaschine, nicht.
8 Ungewöhnlicher als diese interdisziplinäre Öffnung mag der breite Raum erscheinen, den zum einen »Anfangs- und Modellvorstellungen« und zum anderen »Vor- und Kontextbedingungen« der Philosophie einnehmen, erster und zweiter Teil des 41 Karten und Schaubilder umfassenden Kerns des Atlasses. Hier geht Holenstein weit in die Menschheitsgeschichte zurück, um mögliche Spuren ihrer geistigen Entwicklung aufzuzeigen.

Ursprünge und Kontexte des Denkens

Wissenschaft und Philosophie in 'Mitteleuropa'
enlarge Wissenschaft und Philosophie in »Mitteleuropa«
(Ausschnitt)
9 Die elf Tafeln des ersten Abschnitts kontrastieren historische mit heutigen »Anfangs- und Modellvorstellungen« über die Beziehungen zwischen den Kulturen. Es geht los mit aktuellen Hypothesen zur Humanisation der Erde, denen Holenstein verschiedene klassische Modelle gegenüberstellt. Von Hegels Stufengang des Weltgeistes und dem Weber-Habermasschen Diagramm der Einstellungen zur Welt reicht der Bogen über al-Fārābīs Kreislauf der Philosophie und einem zweifachen Kreislauf von Weisheitslehren »aus den Quellen des Judentums« bis hin zu Jaspers »Ofenrohr-Modell« der Menschheitsgeschichte, um nur einige Beispiele zu nennen.
10 Der zweite Abschnitt mit insgesamt acht Karten dreht sich um die »Vor- und Kontextbedingungen« des Philosophierens. Besonderes Augenmerk legt Holenstein dabei auf die Entwicklung der Sprachen und Schriften, denen er eine entscheidende Bedeutung für die Ausbildung komplexer philosophischer Systeme beimisst. Wo liegen die Ursprünge menschlicher Kognition und Sprache? Wie haben sich die Sprachfamilien verbreitet? Wo und wann entstanden die ersten Schriftkulturen? Wie erfolgte die Entwicklung der alphabetischen Schriften? Wer sich auf diese Fragen einlässt, begibt sich auf lehrreiche Entdeckungsreisen durch die Geistesgeschichte der Menschheit, zu der die originellen Karten einladen. Weiterhin thematisieren sie die kulturelle Situation im vorkonfuzianischen China sowie im vorkolonialen Amerika und Afrika.

Orte und Wege des Philosophierens

11 Die anschließenden »vier Geschichten der Philosophie« mit jeweils fünf Karten bilden den Hauptteil des Kartenwerks. Sie sind gleichgewichtig den »großen historiographisch dokumentierten Netzwerken des philosophischen Denkens« (22) gewidmet und nach den vier Himmelsrichtungen gegliedert. Den Anfang bildet der »Westen« zum westlichen Teil der Alten Welt, also der Mittelmeerregion und Südwestasien. Es folgen der »Süden« zum indischen Subkontinent und Nachbarregionen und der »Osten« zu China und weiteren ostasiatischen Ländern. Eine Sonderstellung nimmt der »Norden« mit den philosophischen Entwicklungen der Neuzeit in Europa und Nordamerika ein, da sie, so Holenstein, erstmals auf der Rezeption von Ressourcen aus allen anderen Erdteilen basierten.
12 Die Karten führen hinein in ein ganzes Labyrinth von philosophischen Entwicklungen in den verschiedenen Weltregionen, von unterschiedlichsten Querverbindungen zwischen ihnen, von Weiterentwicklungen, Neuentdeckungen und Missverständnissen, von Brüchen, Umwegen und Katastrophen, von Rezeption und Transformation von Ideen als philosophischem Alltag, sei es in Mitteleuropa, in Nepal oder Tibet, in Korea, Japan oder Vietnam. Ebenso wichtig: Sie führen auch wieder heraus. Gewiss ist es Holensteins Absicht, seine Leser und Leserinnen mit der Komplexität der Philosophie zu konfrontieren. Aber er gibt uns auch geeignete Mittel an die Hand, mit ihr umzugehen.

Ein Werk gegen konventionelle Sichtweisen

Wissenschaft und Philosophie in 'Mitteleuropa'
enlarge Re-Orientierung der Erdkarte?
(Ausschnitt)
13 Der letzte Teil stellt zwei Tafeln zu Gegenwart und Zukunft der Menschheit vor. Während Holenstein im ersteren Schaubild eine drohende Monopolisierung der Globalisierung durch Nordamerika problematisiert, stellt er in der letzten Karte gewohnte und scheinbar selbstverständliche Sichtweisen der Welt provozierend auf den Kopf. Die geostete Weltkarte zeigt unten als Fundament Afrika, die »Wiege der Menschheit«, sekundiert von Europa, dem Ursprung der neuzeitlichen weltumspannenden Veränderungen. Darüber befindet sich Asien mit China, dem »Reich der Mitte«, tatsächlich ungefähr im Zentrum der Karte, und dem Ableger Australien. Der amerikanische Doppelkontinent, die »Neue Welt«, überwölbt das Ganze wie eine Kuppel; man könnte auch sagen, die »alten Kontinente« stehen unter seiner Schirmherrschaft. Spätestens beim »Neos omphales gēs«, dem neuen Nabel der Welt, kommen der Schalk und die Lust zur verschmitzten Provokation des Schweizer Philosophen endgültig durch; ihn hat er irgendwo im Pazifik nordöstlich von Neuguinea eingezeichnet.
14 Die Lust, eingefahrene Sichtweisen bei seinen Lesern und Leserinnen gehörig durcheinander zu wirbeln, durchzieht nicht nur die Karten selbst, sondern auch die Begleittexte, die jede der Karten kommentieren. Dazu wartet Holenstein mit einer Vielzahl von Detailinformationen auf. Hiervon hätte man sich in dem einen oder anderen Fall sogar noch mehr gewünscht, auch wenn dies wohl nur zu Lasten der jeweiligen einführenden Bemerkungen möglich wäre.
15 Dem Kartenwerk voraus gehen erhellende Leitgedanken, ihm nach folgen zwei umfangreiche Register, ein Personen- und ein geografisches Register, die man beim ersten Schmökern im Atlas leicht überblättert. Doch spätestens auf den zweiten Blick wird man gewahr, welch unendlich reiches Schatzkästlein man da vor sich hat. Auf 159 Seiten, mehr als der Hälfte des Gesamtumfangs, geben mehrere tausend minutiös erfasste Einträge Auskunft zu philosophisch relevanten Stätten sowie den Lebensstationen der Denker und Denkerinnen. So viele Fragen diese schier unerschöpfliche Fundgrube zu beantworten vermag, so viele neue, weiter gehende wirft sie gleichzeitig auf. Sie gebiert eine beunruhigende Neugier und erweckt in einem die bohrende Ungewissheit über den eigenen Standpunkt und zugleich die sokratische Gewissheit, nichts zu wissen.

»Kulturelle Höflichkeit«

»Wie beschriftet man, zumal in einem Geschichtsatlas, einen Grenzfluß …? Welchen Namen gebraucht man für eine Stadt …? Für welche … Staatsbezeichnungen entscheidet man sich …?«

Elmar Holenstein
(23)
16 Einige interessante Testballons lässt Holenstein mit dem aufsteigen, was er »kulturelle Höflichkeit« (cultural politeness) nennt. Gemeint sind damit vor allem an Selbstbezeichnungen orientierte und von einem unreflektierten Eurozentrismus bereinigte sprachliche Benennungen. Es sei nicht zu spät, einige alte Bezeichnungen auszuwechseln. So argumentiert er etwa, dass Bezeichnungen auf »-ismus« häufig die Konnotation eines ideologischen Systems hätten und daher als abschätzig aufgefasst werden könnten. Aus »Buddhismus« wird somit in Holensteins Sprachregelung »Buddhadharma«, aus »Tantrismus« neu »Tantrayāna« usw.
17 Besonders angemessen sind die verwendeten Bezeichnungen da, wo ein deplatzierter Eurozentrismus ersetzt wird: Mit »Südostasien« für »Hinterindien« ist dies längst selbstverständlich, analog spricht Holenstein von »Südwestasien« für »Vorderasien« oder von »Ostasien« statt des »Fernen Ostens«. Mit »Afrika südlich der Sahara« und der »Nīl-Āmū-Daryā-Region« für »subsaharisches Afrika« bzw. »Naher Osten« wird es allerdings sperrig – wie bei einigen anderen Bezeichnungen auch.
18 Fraglich erscheint auch die strikte Vermeidung deutscher geografischer Namen für alles, was nicht deutschsprachig ist. Es ist nicht recht einsichtig, was so viel besser daran sein soll, ab sofort zum Beispiel von »Rossiia« statt von »Russland« zu sprechen, oder warum die Nachsilbe »-ei« gar so böse ist und es nun Türkiye oder Monggol Ulus heißen soll. Kein Deutscher würde sich wohl daran stoßen, als »Allemand« bezeichnet zu werden, obwohl er wahrscheinlich gar kein Alemanne ist, sondern vielleicht Sachse oder Rheinländer.
19 Heikel wird die strikte Orientierung am Eigennamen da, wo dieser selbst zentristisch ist, wie etwa bei »Zhongguo«, dem »Land der Mitte«, für »China«, oder ideologisch, wie im Fall von »Bhārat« für »Indien«, eine Namensneuschöpfung, die mit ethnischen und religiösen Restaurationsbestrebungen verbunden ist. Es können auch verschiedene Eigenbezeichnungen in Konkurrenz zueinander stehen. Holenstein behilft sich damit, gegebenenfalls zwei oder mehr Namen anzugeben, zum Beispiel das hebräische Yerūshālayim und zugleich das arabische Al-Quds. Umgekehrt kann auch ein zur Eigenbezeichnung gewordener Name eine diskriminierende Bedeutung haben. »Ītyop'ya« (Äthiopien) etwa bedeutet »Brandgesicht« (von griech. aithos = »Brand« und ops = »Gesicht«). Es bleibt also abzuwarten, welche der von Holenstein verwendeten Bezeichnungen sich tatsächlich durchsetzen werden. Dennoch erscheint der von ihm eingeschlagene Weg insgesamt durchaus als richtungweisend.

Das Problem interkultureller Ausgewogenheit

Neuer 'Fruchtbarer Halbmond'
enlarge Großer »Fruchtbarer Halbmond«
(Ausschnitt)
20 Wesentlich problematischer ist da die notwendige Auswahl der Themen, die die einzelnen Karten zum Inhalt haben. Die interkulturelle Ausgewogenheit, um die sich Holenstein bemüht, ist mit seinem an den vier Himmelsrichtungen orientierten Schema ziemlich aus dem Lot geraten, kann sie doch letztlich nicht anders verstanden werden als eine modifizierte Verlängerung der ebenso alten wie falschen These von den drei Geburtsorten der Philosophie in Griechenland, Indien und China, hier mit dem Sonderfall der westlichen Moderne oben draufgepfropft. Afrika und Lateinamerika werden mit je einer Karte zur vorkolonialen Zeit unter den »Vor- und Kontextbedingungen« der Philosophie abgehandelt, als ob es dort keine philosophische Weisheit gegeben hätte und gäbe.
21 Diese Zurücksetzung mag zum einen von Holensteins Überbetonung von Schriftlichkeit für die Entwicklung philosophischer Reflexion herrühren, doch erklärt sie dann noch immer nicht die Nichtbeachtung von nahezu fünfhundert Jahren schriftlicher philosophischer Produktion in Lateinamerika seit der Kolonialzeit, die über eine bloße Rezeption europäischer Philosophie weit hinausgehend immer schon eigenständige Transformationsprozesse zeitigte. Diese nachzuverfolgen wäre gerade für eine interkulturelle Perspektive hoch interessant. Ähnliches ließe sich für Afrika südlich der Sahara sagen, wenn auch für einen wesentlich kürzeren Zeitraum. Das gleiche Phänomen findet sich auf anderer Maßstabsebene wieder: Auf der Karte zur neuzeitlichen Philosophie in Europa bleibt zum Beispiel die für die europäische Rechts- und Staatsphilosophie so wesentliche spanische Spätscholastik gänzlich unberücksichtigt.

Stolpersteine auf dem Weg zum Klassiker

»Es ist nichts, was den geschulten Verstand mehr kultiviert und bildet, als Geographie.«

Immanuel Kant
22 Andere Vereinfachungen und Generalisierungen sind freilich dem Medium geschuldet. Eine Karte muss sich, um lesbar zu bleiben, auf das Wesentliche beschränken. Hier das richtige Maß zu finden ist eine schwierige Gratwanderung, die Holenstein gut meistert, auch wenn sie ihm nicht immer gänzlich glückt. Mitunter kommt er ein wenig vom Weg ab, und zwar zu beiden Seiten des Grates. In Übergeneralisierungen holt er stellenweise so weit aus, dass der Erkenntnisgewinn letztlich banal wird (53). Ein anderes Mal wird ein Erkenntnisgewinn schlicht unmöglich, da das Schaubild mit Information überladen ist (63). Einige Karten gewännen durch eine stärkere zeitliche und/oder regionale Differenzierung erheblich an Übersichtlichkeit (und manchmal auch an Richtigkeit). Dort würde das Zuviel an Information wohl besser auf mehrere Einzelkarten aufgeteilt.
23 Auch andere handwerkliche Fehler erschweren das intuitive Verständnis vieler Karten. Häufig ist ein falsches Farbkontinuum gewählt oder zumindest ein sehr eigenwilliges. Die Symbole für die Orte der Philosophiegeschichte folgen keinem konsistenten Schema. Die Überschriften für die Tafeln sind an immer anderer Stelle in den Karten selbst versteckt, statt sie links über die Doppelseite zu setzen, wo der Leser sie erwarten würde.
24 Gänzlich unverständlich bleibt, wieso die überwiegend im Querformat vorliegenden Karten nicht in die Mitte der Doppelseiten platziert wurden und der Text um sie herum gruppiert. Damit wäre das ständige lästige Drehen des Atlasses vermieden, und es ergäbe sich in einer stärkeren Verquickung von Text und Karte automatisch eine aufgelockerte Anordnung des Inhalts. Dessen Gestaltung folgt bislang dem Dogma aus längst vergangenen kartografischen Zeiten, beide Elemente strikt voneinander zu trennen.
25 Dies alles ist aber nicht Aufgabe eines Philosophen, sondern eines Teams von professionellen Kartografen, das Elmar Holenstein nicht zur Verfügung stand. Überhaupt scheint die wünschenswerte Fortführung des Projektes mit fortschreitendem Forschungsstand nur in Teamarbeit möglich. Holenstein, der die interkulturelle Erfahrung zu seinem Alltag gemacht hat und seit seiner Emeritierung in Japan lebt, hat eine unglaubliche Menge an Informationen zusammengetragen, die den Philosophie-Atlas schon jetzt zu einem Klassiker machen, der als unentbehrliches Nachschlagewerk in jeden Philosophenhaushalt gehört.
26 Der Atlas verführt dazu, sich aufzumachen zur Entdeckung von Verbindungen und Zusammenhängen, die neue Denkräume auftun. Und er verführt zum Träumen – zum Träumen auch von weiteren Karten, zu den großen Übersetzungsleistungen der Philosophie zum Beispiel, zu einzelnen Schulen, Netzwerken, Denkern, Begriffen oder auch speziell zu den Philosophinnen im Laufe der Geschichte.
27 Eine Sisyphusarbeit – fürwahr! Ein unvollendbares Projekt. Dennoch ist zu hoffen, dass wir uns auch künftige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen als glückliche Menschen vorstellen dürfen.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 5 (2004).
Online: http://lit.polylog.org/5/rbb-de.htm
ISSN 1616-2943
Autor: Bertold Bernreuter, München (Deutschland)
© 2004 Autor & polylog e.V.
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