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Stephan Schmidt

Chinesische Philosophie und das Problem der Perspektive

Zu Bo Mou (ed.): Comparative Approaches to Chinese Philosophy

Annäherung von wo?

Bo Mou (ed.):
Comparative Approaches to Chinese Philosophy.
Burlington, VT: Ashgate, 2003.
332 Seiten
ISBN 0-7546-0508-6
book cover
Ashgate Publishing:
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1 Sechzehn Aufsätze neueren Datums, entweder Erstveröffentlichungen oder Überarbeitungen jüngst erschienener Untersuchungen, hat der Herausgeber Bo Mou versammelt, um Wege gegenseitiger Verständigung und konstruktiver Verknüpfung von westlicher und chinesischer Philosophie aufzuzeigen. Gegliedert in fünf Teile bieten sie einen vielfältigen Querschnitt der verschiedenen Zugänge zu chinesischem Denken, die aber nicht als wechselseitig exklusiv, sondern, wie die Einleitung des Herausgebers ausführt, als »somehow complementary« (xv) verstanden werden wollen. Die drei Hauptteile sind der Philosophie des Yi Jing (Buch der Wandlungen), dem Konfuzianismus und dem Daoismus gewidmet, ergänzt um einen informativen Aufsatz von A.C. Cua, "Emergence of the History of Chinese Philosophy" (Teil 1), sowie zwei Aufsätze zur Logik (Teil 5). In diesem letzten Teil findet sich mit Yiu-ming Fungs Essay "The Thesis of Antilogic in Buddhism" auch der einzige explizit dem buddhistischen Denken gewidmete Aufsatz des Bandes.
2 Der Herausgeber begründet die weitgehende Unterschlagung des Buddhismus nicht, die umso erstaunlicher ist, als der chinesische Buddhismus nicht nur ein wichtiges Element der philosophischen Tradition Chinas ausmacht, sondern als solcher bereits ein interkulturelles Phänomen darstellt. Seine Auslassung fügt sich aber insofern ins Bild, als bei aller Vielfalt der Ansätze das Hauptaugenmerk stets der »klassischen« Periode des chinesischen Denkens gilt, der Vor-Qinzeit also (vor der Reichseinigung im Jahre 221 v. Chr. durch Qin Shihuang), in der die wichtigsten Vertreter von Konfuzianismus und Daoismus die Grundlagen ihrer jeweiligen Schulen gelegt haben, während der Buddhismus China bekanntlich erst in der Hanzeit erreichte. Mit seinem Interesse mehr an den philosophischen Grundlagen und weniger ihren geschichtlichen Entwicklungen steht der Band fest in der Tradition der westlichen Beschäftigung mit chinesischer Philosophie, die – Ironie der Geschichte – das expressis verbis stets zurückgewiesene Hegelsche Diktum von der Ungeschichtlichkeit des chinesischen Geistes unter der Hand doch bestätigen zu wollen scheint.

Verstehen oder Problemlösung?

»The primary purpose of the volume is not historical and descriptive, but critical and constructive.«

Bo Mou
(xv)
3 Das gemeinsame Anliegen aller Aufsätze über die unterschiedlichen Themen hinweg liegt im Moment des interkulturellen Vergleichs, die gemeinsame Überzeugung der Autoren betrifft die Möglichkeit, unabhängig voneinander entstandene philosophische Traditionen »could learn from each other and jointly and constructively contribute to a common philosophical enterprise« (xv). Da in China ein solcher Lernprozess bereits seit dem späten 19. Jahrhundert in Gang gekommen ist, während Philosophen im Westen bis heute dem chinesischen Denken kaum Bedeutung für ihre eigene Arbeit zubilligen, richtet sich die Bemühung vieler Beiträge vor allem darauf, die Relevanz des chinesischen Denkens für westliche Diskurse in der Philosophie und darüber hinaus zu erweisen. Insbesondere die konfuzianische Ethik wird optimistisch als ein Kandidat präsentiert, dem man die Lösung sozialer Probleme westlicher Gesellschaften – das heißt der amerikanischen Gesellschaft, in der die überwiegende Mehrzahl der Autoren ausgebildet wurde – zutraut.
4 Dieser Anspruch zeugt von einem für europäische Leser ungewohnten Verständnis von Philosophie und Tradition: Einige Aufsätze erwecken den Anschein, als sei die Geschichte im Verlauf der Jahrhunderte so freundlich gewesen, eine Art Verbandskasten mit allerlei Ansätzen, Einsichten und Theorien zu füllen, aus dem man sich heute je nach Bedarf bedienen kann, um einem aktuellen Problem sein philosophisches Pflaster zu applizieren. So stellt R.C. Neville in seinem Beitrag "The Project of Boston Confucianism" in der gegenwärtigen – als Beispiel für sein erstaunliches Gedankenexperiment herangezogenen – Bostoner Gesellschaft einen Mangel fest an »social forms and stylest that properly humanize people« (189), und er weiß, was dem Abhilfe verschaffen könnte: Ein »tragbarer Konfuzianismus« (portable Confucianism)! Neville beginnt umgehend die Koffer zu packen, nämlich einen Kanon an konfuzianischen Schriften aufzustellen, der Boston mit dem nötigen Input an »angemessenem Verhalten« (Li) und »Menschlichkeit« (Ren) zu versorgen helfen soll.
5 Nicht alle Beiträge erreichen diesen bemerkenswerten Grad der Naivität (oder lediglich des Optimismus?), aber andere übertreffen ihn noch: R.E. Allinsons Aufsatz "Hegelian, Yi-Jing and Buddhist Transformational Models for Comparative Philosophy" gibt ein schlagendes Beispiel für den Schaden, den interkulturelle Philosophie anrichten kann, wenn sie mit dem entsprechenden Maß an Unkenntnis der eigenen Tradition ausgestattet ist, oder wie Allinson selbst es nennt: »Philosophy thus freed one from the prison of historical order.« (68) Dies, wohlgemerkt, wird unter Berufung auf Hegel gesagt! Man könnte über solches Denken gnädig den Mantel des Schweigens hüllen, wenn man nicht fürchten müsste, dass etwas daran typisch für den theoretischen Status quo komparativer Philosophie sein könnte: das mangelhafte Bedenken der eigenen Bedingungen und Bedingtheiten, der historischen und kulturellen Voraussetzungen, daher die Unausgewiesenheit der jeweiligen Standpunkte und die daraus folgende Ortlosigkeit der Autoren – eine solche im originalen Wortsinne »utopische«, von ihren eigenen Wurzeln befreite Philosophie dürfte kaum das Potential haben, interkulturelles Verstehen zu befördern.

Der Sinn der Unterschiede

»…it is only on the basis of difference that a contribution to a totalizing or integrative theory could be fruitfully made…«

Chung-ying Cheng
(35)
6 Allerdings verlieren sich keineswegs alle Autoren des Bandes dergestalt im philosophischen Niemandsland: B.W. Van Norden ("Virtue Ethics and Confucianism") setzt Möglichkeiten des Vergleichs und des gegenseitigen Lernens nicht einfach voraus, sondern versucht sie im Umgang mit den Texten nachzuweisen. Ruiping Fan ("Social Justice: Rawlsian and Confucian?") kommt durch seine Analyse des kulturellen Kontextes beider Ansätze zu einer eher skeptischen Einschätzung hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit in die jeweils andere Kultur. Und C. Hansen ("The Metaphysics of Dao") bezeugt durch seine vorsichtige Anwendung bestimmter kulturell vorbelasteter Kategorien – etwa Metaphysik – dass er sich des Grabens bewusst ist, über den hinweg sich interkulturelles Verstehen zu entwickeln hat.
7 Dennoch offenbart der Band insgesamt die Tendenz, bestimmte (westliche) Ordnungsmuster philosophischer Diskurse und ihre Grundbegriffe als selbstverständlich vorauszusetzen, das heißt von einem bestimmten Vorverständnis der Philosophie auszugehen, ohne sich dessen bewusst zu sein – und dies gilt auch für die Beiträge der chinesischen Autoren. Was auf den ersten Blick wie ein Selbstwiderspruch wirkt, ist tatsächlich ein wichtiges, aber oft übersehenes Moment der modernen chinesischen Philosophie im Allgemeinen: Es lässt sich bis zu Feng Youlans Versuch zurückverfolgen, eine Geschichte der chinesischen Philosophie in westlichen Begriffen zu schreiben. Seine Arbeit hat der chinesischen Philosophie den Zugang zur Arena der westlichen Diskurse geöffnet, sie aber gleichzeitig in eine Begrifflichkeit gekleidet bzw. verkleidet, die auf einem »Gleichsetzen des Nicht-Gleichen« (Nietzsche) beruht. Und die Hauptströmung der westlichen China-Forschung ist Feng dabei gefolgt – ein prominentes Beispiel ist Wing-tsit Chans Sourcebook of Chinese Philosophy, dessen Übersetzungen auch heute noch als Standard gelten. Sind unterschiedliche Konzepte aber erst einmal begrifflich gleichgesetzt worden, lassen sich unterschiedliche Gehalte und Nuancen kaum noch sichtbar machen – so wird der Titel »komparative Philosophie« zum Euphemismus für ein bloßes Spiel mit unverbundenen Versatzstücken verschiedener Traditionen.
8 Einen informativen Querschnitt über aktuelle Annäherungen an die chinesische Philosophie bietet der Band Comparative Approaches to Chinese Philosophy allemal; gleichwohl offenbart er dabei nicht nur das Potential eines sich interkulturell orientierenden Philosophierens, sondern auch die gewaltigen Hindernisse, die der Ausschöpfung dieses Potentials noch immer im Wege stehen.
9 Zum Schluss ein Wort zur Ausstattung: Nur zwei der sechzehn Beiträge sind im Text mit chinesischen Schriftzeichen ausgestattet, zwei weitere bieten immerhin ein Glossar der angeführten Begriffe; alle anderen arbeiten alleine mit der Pin-yin-Umschrift. Originalzitate gibt es nicht. Auch hier zeigt sich eine Vernachlässigung der hermeneutischen Probleme von Übersetzungen – in der Tat ein Schlüsselproblem interkultureller Philosophie – und die problematische Tendenz, lieber leicht verständlich als philosophisch genau sein zu wollen.
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 4 (2003).
Online: http://lit.polylog.org/4/rss-de.htm
ISSN 1616-2943
Autor: Stephan Schmidt, Berlin (Deutschland)
© 2003 Autor & polylog e.V.
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