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Christoph Jäger

Die Rechtfertigung hat ein Ende

Zu Ulrich Arnswald & Anja Weiberg (Hg.): Der Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein über Religion, Mystik und Ethik

Überblick

Ulrich Arnswald /
Anja Weiberg (Hg.):
Der Denker als Seiltänzer.
Ludwig Wittgenstein über Religion, Mystik und Ethik.

Düsseldorf: Parerga, 2001.
293 Seiten
ISBN 3-930450-67-4
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Parerga Verlag:
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1 Themen wie Religion, Ethik und Ästhetik im Werk Wittgensteins erfreuen sich in den letzten Jahren zunehmenden Interesses. Der Band Der Denker als Seiltänzer umfasst vierzehn Beiträge (von Ulrich Arnswald, Wilhelm Beermann, John Churchill, Liam Hughes, Jens Kertscher, Matthias Kross, Dieter Mersch, Regine Munz, Genia Schönbaumsfeld, Joachim Schulte, Monika Seekircher, Ilse Somavilla, Andrej Ule und Anja Weiberg), die – mit Ausnahme eines Aufsatzes über Solipsismus von Joachim Schulte – Wittgensteins Gedanken zu diesen Themen rekonstruieren und ihre Rolle in seinem Gesamtwerk untersuchen. Einige der Texte berücksichtigen auch biographische Einflüsse, so etwa ausführlich der Beitrag von Regine Munz, der anhand von Briefen und Tagebüchern Wittgensteins die Bedeutung seiner Erlebnisse während des Ersten Weltkriegs für die Rolle des Mystischen im Tractatus erkundet.
2 Insgesamt werden in vielen der Beiträge auch persönliche Züge Wittgensteins und deren Verwobenheit mit seinen philosophischen Bemühungen transparent. Die Texte sind informativ und grösstenteils gut zugänglich geschrieben. Hilfreich gewesen wäre eine kurze Notiz zu den Autoren und, gerade weil der Band erfreulich klar fokussiert ist, auch eine Auswahlbibliographie zu den bearbeiteten Gebieten. Da der begrenzte Raum es an dieser Stelle nicht gestattet, alle Texte auch nur im Rahmen einer knappen Inhaltsangabe vorzustellen, werfe ich im folgenden exemplarisch einen Blick auf einige Überlegungen, die sich den Auffassungen des späten Wittgenstein über religiösen Glauben widmen. Diese Fokussierung ist nicht im Sinne einer Wertung der Beiträge zu verstehen.

Glaube, Weltbilder, Denkstile

3 In einem Abschnitt "Über das ethische Gefühl und die Religion" versucht Ulrich Arnswald in seinem Beitrag "Das Paradox der Ethik – 'Sie lässt alles, wie es ist'" im Anschluss an eine einschlägige Stelle aus dem Jahre 1947 aus Wittgensteins Vermischten Bemerkungen deutlich zu machen, inwiefern religiöser Glaube Wittgenstein zufolge als eine »Entscheidung für ein Bezugssystem«, als »Hinwendung zu einer Weltsicht oder einem bestimmten Weltbild« angesehen werden könne. Das, was man nach der Entscheidung für ein solches Bezugssystem als Wahrheit ansehe, sei abhängig von eben diesem System (26). Ein Weltbild selbst allerdings könne »nicht hinterfragt« werden, sondern werde vielmehr schlicht »als ›wahr‹ anerkannt oder nicht« (27).
4 Was solche Thesen indessen genauer bedeuten sollen, wie der Begriff des Bezugssystems im einzelnen zu verstehen ist und warum man ein Weltbild nicht hinterfragen kann, wird nicht näher thematisiert. Tatsächlich legt Wittgensteins dezisionistische Formulierung an jener Stelle eher die Schlussfolgerung nahe, dass religiöser Glaube durchaus kritischen Beurteilungen unterzogen werden kann. Denn Entscheidungen können, abhängig von den ihnen zugrunde liegenden Zielen und Gründen, gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen sein. Insbesondere können sich Subjekte, sofern sie sich für eine Sache entscheiden können, auch gegen sie entscheiden. Die Frage ist, wie gut die jeweiligen Gründe für die Entscheidung sind und um welche Art von Gründen es sich handelt. Ein zentrales exegetisches Thema lautet daher, ob und inwiefern sich Wittgensteins Rede von einer »Entscheidung für ein Bezugssystem« mit seinen ebenfalls in zahlreichen Variationen vorgebrachten Überlegungen in Einklang bringen lässt, dass religiöser Glaube kein geeigneter Gegenstand von Rechtfertigung und Begründung ist. Die Spannungen, die in diesem Zusammenhang zwischen Wittgensteins Rede von »Entscheidungen« und seinen etwa in Über Gewissheit geäußerten Überlegungen auftauchen, ein Weltbild sei der typischerweise nicht reflektierte »überkommene Hintergrund« (94), auf dem man zwischen wahr und falsch unterscheide, sollten klar benannt und in ihrer Signifikanz ausgelotet werden.
»Der jeweilige Denkstil eines Menschen lässt ihn schwerwiegende Entscheidungen treffen, so z.B., ob die Welt als Schöpfung Gottes oder aus einem ›Nebelfleck‹ entstanden ist – oder aber, dass keine der beiden Erklärungen mehr Rationalität beanspruchen kann als die andere.«

Anja Weiberg
(283)
5 Anja Weiberg korreliert in ihrem Beitrag über "Philosophie und Leben" den Begriff des Weltbilds mit Hinweisen Wittgensteins zu einem »Stil des Denkens«. Wie Wittgenstein an der eben zitierten Stelle in Über Gewissheit sagt, hat man ein Weltbild nicht, weil man sich von dessen Richtigkeit überzeugt hat oder von seiner Richtigkeit überzeugt ist. Auch Weiberg schreibt indessen, dass es der auf einem Weltbild beruhende »Denkstil« eines Menschen sei, der ihn »schwerwiegende Entscheidungen« treffen lasse, »so z.B., ob die Welt als Schöpfung Gottes oder aus einem ›Nebelfleck‹ entstanden ist – oder aber, dass keine der beiden Erklärungen mehr Rationalität beanspruchen kann als die andere« (283). Dabei gelte, dass Erklärungen der einen wie der anderen Art sich nicht auf letzte Begründungen stützen können. Offen bleibt allerdings auch hier, ob die Rede von »Entscheidungen« in diesem Zusammenhang tatsächlich angemessen ist und warum sich, wenn sie es wäre, entsprechende Weltbilder und Denkstile rationaler Bewertung und Kritik entziehen sollten.

Religiöser Glaube und epistemische Begründung

»Der Glaube ist die Säule der religiösen Lebensform, genau wie der Begriff ›Gegenstand‹ zu den Grundfesten unseres Bezugssystems gehört.«

Genia Schönbaumsfeld
(190)
6 Den meiner Einschätzung nach systematisch aussichtsreichsten Vorschlag im Anschluss an den späten Wittgenstein hinsichtlich des erkenntnistheoretischen Status religiösen Glaubens skizziert Genia Schönbaumsfeld. Religiöser Glaube kann demnach mit jener Form von Gewissheit verglichen werden, die Wittgenstein in Über Gewissheit dem Glauben an sogenannte Moore-Propositionen zuschreibt, speziell Einstellungen zu Propositionen, aus denen die Annahme der Existenz physischer Gegenstände folgt. Ein solcher Glaube kann, ebenso wie religiöse Lehren, nicht sinnvoll als Hypothese aufgefasst werden; auch im Falle von Moore-Propositionen klingt es schief, von »Meinungen« zu sprechen, usw. Religiöser Glaube, so Schönbaumsfeld, sei daher in ähnlicher Weise als die »Säule« religiöser Lebensformen aufzufassen wie der Begriff »Gegenstand« zu den Grundfesten unseres Bezugssystems nichtreligiöser Sprachspiele gehöre (190).
7 Fraglich bleibt, ob solche Überlegungen notwendig auf die typischerweise in diesem Zusammenhang aufgestellte und auch von Schönbaumsfeld aufgegriffene These führen, dass Sätze wie »Es gibt Gott« und »Es gibt Gegenstände« keine echten Behauptungen sind und keinen faktischen Gehalt haben (182). Zwar gibt es verschiedene Äußerungen Wittgensteins, die sich in dieser Weise deuten lassen: so etwa seine Bemerkung in den Vorlesungen über religiösen Glauben, Teil I, dass wir in religiösen Diskursen Ausdrücke wie »Ich glaube, dies und das wird geschehen« anders verwenden als in der Wissenschaft. Auch wäre die umgekehrte These zweifellos richtig: Wenn mit solchen Sätzen keine Behauptungen aufgestellt würden, würden mit ihnen auch keine Meinungen und Hypothesen ausgedrückt und sie kämen, allgemein gesprochen, als Gegenstände epistemischer Rechtfertigung und Begründung nicht in Frage.
8 Aber Wittgensteins Hinweise auf die Besonderheiten religiöser Diskurse lassen sich auch anders deuten. In den Vorlesungen, Teil III, insistiert er zum Beispiel darauf, dass religiöse Sätze keineswegs bloß verkappte Ausdrücke bestimmter »Haltungen« sind, sondern »sagen, was sie sagen«. Und vor dem Hintergrund solcher Bemerkungen wäre zu erwägen, ob die Klasse der Sätze mit faktischem Gehalt nicht womöglich grösser ist als die der geeigneten Gegenstände epistemischer Rechtfertigung. Vielleicht sollten speziell religiöse Überzeugungen sehr wohl so verstanden werden, dass sie einerseits einen kognitiven Kern mit »faktischem Gehalt« haben, andererseits jedoch in ähnlicher Weise als ausserepistemische »Angeln« der epistemischen Praxis des Gläubigen fungieren, wie Moore-Propositionen allgemein die Angeln oder den Rahmen unserer Alltagspraxis des Glaubens, Zweifelns und Begründens bilden. Eine solche Sichtweise würde das Grundproblem nichtkognitivistischer Analysen religiösen Glaubens, die religiösen Aussagen ihren Behauptungscharakter absprechen und damit dem Selbstverständnis der meisten Gläubigen zuwiderlaufen, vermeiden, ohne sich jedoch den Schwierigkeiten von Theoriefamilien auszusetzen, die religiöse Sätze als quasi-wissenschaftliche Hypothesen konstruieren. Überlegungen in dieser Richtung, die ich hier nicht mehr vertiefen kann, scheinen mir insbesondere im Hinblick auf das von Wittgenstein immer wieder betonte Desiderat, Sprachspiele so zu beleuchten, wie sie tatsächlich gespielt werden, am vielversprechendsten zu sein. Der kognitive Kern religiöser Diskurse würde damit nicht unterlaufen, und dennoch könnten wir mit Wittgenstein sagen: »Die Rechtfertigung hat ein Ende.« (Über Gewissheit, 192)
polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 4 (2003).
Online: http://lit.polylog.org/4/rjc-de.htm
ISSN 1616-2943
Autor: Christoph Jäger, Leipzig (Deutschland)
© 2003 Autor & polylog e.V.
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