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Fremdheit als Thema der Philosophie |
Yoshiro Nakamura: Xenosophie. Bausteine für eine Theorie der Fremdheit. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 2000. 272 Seiten ISBN 3-534-14940-8 Wissenschaftliche Buchgesellschaft: ![]() |
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Fremdheit ist heute zu einem Kernthema des Philosophierens geworden. Sie hat sich fast unbemerkt in die philosophischen Diskurse eingeschlichen und existenzielle Sprengsätze an die alten philosophischen Ideale Klarheit und Bestimmtheit gelegt. Fremdheit und Befremdung lassen sich nicht logisch mit dem Aussagemodell des Urteils erledigen, vielmehr bringen sie den universal orientierten Anspruch des Verstehens selber mehr und mehr vor seine eigenen Grenzen. Daher kann Nakamura sein Buch zu Recht mit dem Satz schließen: »Fremdheit zeigt sich dann als relevant für die prima philosophia, für den Ansatz des Denkens überhaupt.«(263) |
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2 | Das Buch gliedert sich in drei Teile: Xenographie, Xenosophie, Xenologie. Im ersten Teil werden die Geschichte der europäischen Fremdwahrnehmung in Erinnerung gerufen, Typologien der Fremdwahrnehmung vorgestellt und der Exotismus als »diskursiver Kolonialismus« zurückgewiesen. | |||
»Vertikale« und »horizontale« Fremdheit |
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Im zweiten und längsten Teil des Buches werden zunächst zwei Phänomenologen (Edmund Husserl und Bernhard Waldenfels) als Ausgangspunkt der Erörterung herangezogen. In der Kritik an Husserl wird die dimensionale Unterscheidung von »Andersheit« und »Fremdheit« herausgearbeitet. Das Andere bezieht sich direkt und deutlich auf das Eigene, Fremdes wird jedoch zumeist als solches gar nicht wahrgenommen, sodass sich hier zwei sehr unterschiedliche Phänomene abzeichnen, die in vielen Ansätzen gar nicht unterschieden werden. Vor allem in der Kritik an Waldenfels, der im phänomenologischen Umgang mit Fremdheit die Phänomene Anspruch und Antwort in den Mittelpunkt rückt, entwickelt Nakamura dann seinen Ansatz zur Fremdheit als Widerspruch. »Erst der Widerspruch, der als Einspruch und Gegenspruch die Präsenz eines Außen, also eine Äußerung darbietet«(130), lässt das Fremde als Fremdes virulent werden im Sinne einer »Selbstverunsicherung«. Damit wird deutlich, »daß mit der Frage nach dem Fremden im Kern auch die Frage nach dem Selbst gestellt ist.«(132) |
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4 | Methodisch führt Nakamura in diesem Zusammenhang die fruchtbare Unterscheidung zwischen »innerer« bzw. »vertikaler« und »äußerer« bzw. »horizontaler« Fremdheit ein. »Vertikale Fremdheit« bezieht sich auf das, was in mir selbst als Fremdes aufbricht (Traum, Wahn, Tod), »horizontale Fremdheit« bezieht sich dagegen auf das, was von außen als Fremdes einbricht (Gast, Händler, Feind). Es ist vor allem die vertikale Fremdheit, die paradigmatisch in den Ansätzen von Siegmund Freud (das Unbewusste als Fremdes in mir), Rudolf Otto (das Numinose als das transzendente Fremde in mir) und postmodernen Denkern wie Derrida, Lyotard, Deleuze, Guattari (die Beseitigung des Subjekts und die vollständige Auflösung meiner selbst in Fremdheit) gedeutet wird. |
Praktisch-ethische Konsequenzen |
»Wie verhalte ich mich angesichts des Fremden? Wie werde ich ihm gerecht und bleibe mir dabei noch treu?« Yoshiro Nakamura (244) |
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Im dritten Teil werden die praktisch-ethischen Konsequenzen der »xenosophischen Ergebnisse« nur noch kurz zusammengefasst. Dabei wird die Beschreibbarkeit von Fremdheit auf ihren verschiedenen Ebenen direkt auf die ethischen Anforderungen gegenüber dem Fremden bezogen als »Orientierung von Handlungen in einer Fremdbegegnung«. So werden die Fragen »Wie verhalte ich mich angesichts des Fremden? Wie werde ich ihm gerecht und bleibe mir dabei noch treu?«(244) in den Blick gebracht, um Wege zu einer »interkulturellen Ethik« anzudenken im Sinne eines »doppelten ethischen Anspruchs«: »Zum einen fordert der Widerspruch des Fremden den Vorbehalt der Nicht-Deutung, d.h. der Geltung als nur fremd. [...] Zum anderen erfordert der vorgefundene Sachverhalt, wie er auch in einer Situation der Fremdheit vorliegt, eine Handlungsentscheidung, die einer Deutung der Situation angemessen ist.«(253) Zum Schluss wird noch die ästhetische Erfahrung als »Erfahrung horizontaler Fremdheit«angedeutet, deren ethische Konsequenzen in einer »Selbstrelativierung«, »Sensibilisierung«, »Parteinahme für das Heterogene«, »Pluralisierung des Weltbildes«, »Gründung der ›äußeren‹ Pluralität auf einer ›inneren‹ Heterogenität«bestehen (257). |
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6 | Nakamura ordnet den Diskurs um die Fremdheit in beachtlicher Weise. Vor allem die methodische Unterscheidung von »vertikaler« und »horizontaler« Fremdheit bringt Einsichten, die die Diskussionen zur Kritik am Subjekt im 20. Jahrhundert in Europa und das Thema Interkulturalität auf dem Hintergrund »ästhetischer Erfahrung« neu verbindbar machen. |
Theorie oder Phänomenologie der Fremdheit? |
Theorien werden im Medium von Begriffen erzeugt, Phänomenologien hingegen können sich im Rahmen von verschiedenen Sprachpragmatiken entfalten. | 7 | Methodisch ist Folgendes anzufragen: Nakamura hält durchgehend daran fest, eine »Theorie der Fremdheit« zu entwickeln, die Fremdes als Fremdes erkennt und darstellt. Seine Grundorientierung ist dabei insgesamt als phänomenologisch zu bezeichnen. Eine »Theorie der Fremdheit« ist jedoch methodisch gesehen etwas anderes als eine »Phänomenologie der Fremdheit«. Bei Waldenfels werden sogar methodisch die Grenzen der Phänomenologie insgesamt im Durchgang durch das Phänomen der Fremdheit (bei Nakamura immer der »Begriff der Fremdheit«) neu gezogen. Theorien werden im Medium von Begriffen erzeugt, Phänomenologien hingegen können sich im Rahmen von verschiedenen Sprachpragmatiken entfalten. Dieser Gedanke ist gerade für die horizontale Fremdheit auch im Rahmen der Philosophie wichtig, denn nicht nur »begriffliche Aussagen« können – interkulturell gesehen – zu »Argumenten« werden. Daran schließt sich die Frage an: Will Nakamura eine »wissenschaftliche Theorie« der Fremdheit für die Kulturwissenschaften, damit diese »theoretisch« und »wissenschaftlich« fundiert mit Fremdheit umgehen kann, oder will er eine ethische Orientierung auch für die Alltagserfahrung von Fremdheit, die sich dem Fremden angemessen öffnet? | ||
8 | Festzuhalten bleibt, dass Nakamura ein sehr anregendes Buch zum Thema Fremdheit gelungen ist. Deutlich wird vor allem, dass das Philosophieren der Gegenwart durch dieses Phänomen auch in Zukunft mehr und mehr in Atem gehalten werden wird. |
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