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Niels Weidtmann

Henry Odera Oruka - ein philosophischer Weiser

Zu Anke Graness & Kai Kresse (Hg.): Sagacious Reasoning. Henry Odera Oruka in memoriam




Anke Graness / Kai Kresse (Hg.):
Sagacious Reasoning. Henry Odera Oruka in memoriam.
Frankfurt/M.: Peter Lang, 1997.
268 Seiten
ISBN 3-631-30794-2




Peter Lang GmbH
Europäischer Verlag der Wissenschaften:
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1

  In ihrem Buch stellen die Herausgeber das Denken des 1995 verstorbenen kenianischen Philosophen Henry Odera Oruka in seiner ganzen Breite dar und greifen zugleich die verschiedenen Diskussionsstränge auf, die sich aus seinem Denken ergeben. Entsprechend bilden zehn Arbeiten Orukas den ersten Teil des Buches, während im zweiten Teil neun Aufsätze von Autoren folgen, die sich auf unterschiedliche Weise mit seinem Denken auseinandersetzen.



 Bewahrer alter Weisheitslehren

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  Der Titel des Buches, Sagacious Reasoning ("weises Urteilen"), ist zugleich Programm und Zusammenfassung der Philosophie Orukas. In ihr lassen sich zwei Schwerpunkte unterscheiden: Den einen bildet das von Oruka 1974 an der Universität von Nairobi ins Leben gerufene Projekt zur Sammlung und Analyse "philosophischer Weisheitslehren". Vor allem für dieses Projekt ist er bekannt geworden, versucht er damit doch, Bewegung in den Streit um eine tragfähige Grundlegung afrikanischer Philosophie zu bringen. Oruka möchte einerseits am "strengen" Philosophiebegriff des akademischen Lehrfachs festhalten ("Mythologies as African Philosophy"), andererseits aber mit Hilfe der Befragung anerkannter Weisheitslehrer zeigen, daß es dennoch sehr wohl eine Tradition individuellen philosophischen Denkens in Afrika gibt.

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  Zu diesem Zweck unterscheidet er zwischen "Volksweisen", die sich im Glauben ihres Volkes zwar sehr gut auskennen, diesen aber nicht kritisch hinterfragen und eigenständig weiterentwickeln, und "philosophischen Weisen", die eben dies tun und ihr eigenes, rational begründetes Verständnis lehren ("Sage Philosophy"; außerdem sind zwei der von Oruka geführten Interviews abgedruckt). Steht reasoning für das "professionelle" Verständnis von Philosophie, dann steht sagacious für ihre afrikanische Tradition.

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  Daß bei der Einteilung der Weisheitslehren in "populäre" und "philosophische" allerdings auch Schwierigkeiten auftreten, darauf weisen M. Falaiye und G. Presbey in ihren Beiträgen hin, und D.A. Masolo äußert gar prinzipielle Bedenken daran, daß eine solche Abgrenzung das philosophische Niveau sicherstellen kann. F. Ochieng'-Odhiambo diskutiert in seinem Aufsatz die Möglichkeit, all diese Schwierigkeiten dadurch zu bewältigen, daß die Interviews auf eine Auswahl von Fragen beschränkt werden, die er der griechischen Philosophietradition entnehmen möchte. M.P. Dikirr, der wie Ochieng'-Odhiambo selbst am Sage philosophy-Projekt mitarbeitet, unternimmt dagegen den Versuch einer Interpretation oraler Traditionen, die sich im konkreten Fall auf die Vorstellungen der Massai über Tod und Unsterblichkeit beziehen.

Henry Odera Oruka:
Grundlegende Fragen der afrikanischen "Sage-Philosophy".
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  Eines der weiterführenden philosophischen Aufgabenfelder, für die Oruka durch die Beilegung des Streits um die Existenz afrikanischer Philosophie den Blick öffnen möchte, ist die Wahrheitsfrage ("African Philosophy in the 1990s"). Er hat sie über Jahre hinweg in einer öffentlich geführten Auseinandersetzung mit Kwasi Wiredu erörtert. Wiredu selbst faßt in seinem Beitrag zum vorliegenden Buch die wichtigsten Schritte dieser Diskussion nochmals zusammen.



 Politische Implikationen

»Oruka möchte einerseits am 'strengen' Philosophiebegriff des akademischen Lehrfachs festhalten, andererseits aber mit Hilfe der Befragung anerkannter Weisheitslehrer zeigen, daß es dennoch sehr wohl eine Tradition individuellen philosophischen Denkens in Afrika gibt.«

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  Der Titel des Buches ist aber auch als Programm für Orukas Bemühungen um eine praktisch engagierte Philosophie zu verstehen, die den anderen Schwerpunkt seines Denkens darstellt. Oruka arbeitet das Prinzip eines "humanen Minimums" aus, das die Rechte des Menschen auf Leben, Gesundheit und eine Grundversorgung sicherstellen und einen tragfähigen Boden für "globale Gerechtigkeit" schaffen soll ("The philosophy of foreign aid"). Diese Konzeption präzisiert er in einer Arbeit über die Grundfreiheiten des Menschen ("Six Liberties") und weitet sie später auf die Umwelt im ganzen aus ("Ecophilosophy and parental earth ethics", gemeinsam mit C. Juma).

7

  O. Nyarwath vergleicht in seinem Beitrag Orukas Verständnis von Freiheit mit den Äußerungen zweier Weisheitslehrer. Auf die wichtigsten Punkte des "Ökozentrismus" geht U. Lölke ein. In einem im Anhang mit in das Buch aufgenommenen Interview charakterisiert Oruka den »bloßen Philosophen« als »Wissenschafter [, der ...] nach reinem Wissen strebt«, und unterscheidet ihn vom »Weisen, welcher das Wissen durch Moral ergänzt«. Philosophie darf, Oruka zufolge, niemals den Blick von der sozialen Realität abwenden, sondern muß immer bemüht sein, zur Verbesserung der Lebenssituation beizutragen. »Philosophie muß weise gemacht werden«, wie Kresse das Interview treffend betitelt hat.



 Die Bedeutung Orukas für die interkulturelle Philosophie

Interview von
Kai Kresse:

"Gespräch mit Henry Odera Oruka: Zur Lage der Afrikanischen Philosophie".
In: Widerspruch. Zeitschrift für Philosophie 16.29 (1996), 162-171.
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Niels Weidtmann
ist als wissenschaftlicher Referent bei der Studienstiftung des deutschen Volkes tätig.

8

  Graness hebt in ihrem Nachwort die Bedeutung von Orukas Denken für die interkulturelle Philosophie hervor. In seinen Bemühungen um eine moderne afrikanische Philosophie mit eigenen Wurzeln vermittelt Oruka auch zwischen europäischem und afrikanischem Denken. Betrachtet man das Bild, das das vorliegende Buch von Orukas philosophischem Werk vermittelt, im ganzen, dann werden allerdings auch Brüche erkennbar, die gerade die interkulturelle Dimension im Denken Orukas unvollständig erscheinen lassen.

9

  So macht z.B. S.B. Oluwole auf den Widerspruch aufmerksam, der darin liegt, daß Oruka die "philosophischen Weisheitslehren" einerseits gegen die "Volksweisheiten" abgrenzt, sie andererseits aber verschiedentlich selbst als »Rohmaterial« bezeichnet, dessen philosophischer Gehalt erst durch die Interpretationsarbeit gehoben wird. Dabei ist es durchaus fraglich, ob überhaupt ein ausschließlich auf die europäische Tradition gegründeter Begriff von Philosophie vorausgesetzt werden darf, wie Oruka dies tut und was erst zu dem genannten Widerspruch führt, oder ob Philosophie in der oralen Tradition Afrikas nicht eine eigene Bedeutung besitzt. Dann müßten, wie Oluwole dies vorschlägt, auch die "Volksweisheiten" in ihrer philosophischen Aussage ernst genommen werden. Damit ist nichts gegen die Ausbildung einer schriftlichen Tradition afrikanischer Philosophie gesagt. Es stellt jedoch eine unnötige Verengung des philosophischen Blickfelds dar, das interkulturelle Gespräch im voraus auf einen einheitlichen Philosophiebegriff festzulegen. Ein interkulturelles Verständnis von Philosophie muß in einem solchen Gespräch erst noch erstritten werden. Gerade die Weisheitslehren, die Oruka in den Mittelpunkt des Interesses gerückt hat, können dazu einen positiven Beitrag leisten. Oruka selbst fordert das ein, wenn er sich die Philosophie "weiser" wünscht.

10

  Im Anhang findet sich neben dem bereits erwähnten Interview mit Oruka eine ausführliche Bibliographie seiner Arbeiten. Verlag und Herausgeber sind zu diesem gelungenen Buch zu beglückwünschen, das einen wichtigen, überwiegend afrikanischen Beitrag zur Standortbestimmung der Philosophie in der Gegenwart leistet. Schade nur, daß keine Philosophen des frankophonen Afrika vertreten sind.



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