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Kai Kresse

Philosophie als Entkolonialisierung?

Zu Emmanuel Chukwudi Eze (ed.): Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader



english  



Emmanuel Chukwudi Eze (ed.):
Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader.
Oxford: Blackwell, 1997.
374 Seiten
ISBN 0631203400




Blackwell Publishers:
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  Dieser Sammelband zur Darstellung und Diskussion afrikanischer Philosophie in postkolonialem Kontext umfaßt 17 Beiträge von 15 Autoren, die in fünf verschiedenen thematischen Gruppen geordnet und präsentiert werden: Africa and modern scientific reason (K. Gyekye, S. Harding, P. Amato), Africa and modern philosophic reason (E. Eze, T. Serequeberhan, G. Presbey), Rebuilding bridges (R. Bernasconi, R. Bell, B. Janz), The politics of the postcolonial (L. Gordon, L. Harris, J. Pittmann, D. Masolo), und Thoughts for a postcolonial future (K. Wiredu, E. Eze, J.-M. Makang, E. Eze). Die Auswahl der Autoren stellt zwar eine interessante Mischung aus wichtigen Namen der älteren Garde afrikanischer Philosophen und (meist jüngeren) nordamerikanischen Philosophen dar, für einen Band aber, der schon vom Titel her beansprucht, das Gebiet postkolonialer afrikanischer Philosophie abzudecken, ist die Tatsache, daß nur ein einziger heute in Afrika wirkender Philosoph, kein jüngerer afrikanischer Philosoph, auf den dies zutrifft, und überhaupt keine afrikanische Philosophin unter den Beitragenden ist, doch äußerst unbefriedigend.



 Eurozentrismuskritik als Programm

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  Es geht vor allem um verschiedene Facetten einer Auseinandersetzung und Verhältnisbestimmung zwischen europäischer Moderne und dem durch koloniale Erfahrung geprägten afrikanischen Kontinent. Im wesentlichen wird dabei dem Paradigma gefolgt, daß die machtpolitische Unterwerfung und Ausbeutung Afrikas eine notwendige Folge eurozentrischer Theorie in Philosophie und Wissenschaft gewesen sei (Eze, in der Einleitung). Mehr noch, Eze beschreibt anthropologische Forschungen während der Kolonialzeit (er nennt Levy-Bruhl und Evans-Pritchard) als instrumentelle Arbeiten, die lediglich auf Erhalt und Erweiterung kolonialer Administration ausgerichtet gewesen seien (10) und damit europäische Überlegenheit quasi-wissenschaftlich untermauern sollten.

 

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  Aber während die Ausführungen Levy-Bruhls zur "prälogischen" und daher inferioren Denkfähigkeit der Afrikaner in der Tat indiskutabel sind, wird man dem ethnographischen Schaffen Evans-Pritchards (und anderer) mit einem solchem Pauschalurteil sicherlich nicht gerecht. Wiredu etwa zitiert Evans-Pritchard/Meyer Fortes (1940). Um eine Perspektive für ein anzustrebendes "postkoloniales" Afrika zeichnen zu können, wie der Herausgeber es beabsichtigt, scheint es doch notwendig, gerade grobe Verallgemeinerungen, wie diese pauschale Disqualifizierung eines Faches, zu vermeiden, um nicht lediglich einen rhetorisch inspirierten und dogmatischen "Anti-Eurozentrismus" als neuen Zentrismus zu etablieren.

»Sollte die geistige Befreiung Afrikas und die Möglichkeit der vielschichtigen Bearbeitung des intellektuellen Erbes dieses Kontinents tatsächlich von der bewußt kruden Simplifikation der Geschichte eines anderen Kontinents abhängig sein?«

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  Eze selbst zeigt aber auch Sensibilität in diese Richtung – z.B. wenn er hervorhebt, daß es für die von Migrationsbewegungen und Instabilität beeinträchtigte afrikanische Philosophie darum gehen müsse, »die Vielheiten und Pluralismen solcher historischer 'afrikanischer' Erfahrungen zu thematisieren und zu verstehen«. (15) Aber wie läßt sich, im Kontrast dazu die Reduktion der europäischen Moderne als »kapitalistisch, ethnozentrisch und rassistisch« (12) vertreten? Sollte die geistige Befreiung Afrikas und die Möglichkeit der vielschichtigen Bearbeitung des intellektuellen Erbes dieses Kontinents tatsächlich von der bewußt kruden Simplifikation der Geschichte eines anderen Kontinents abhängig sein?

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  Hiermit soll nicht der Blick auf den Zusammenhang zwischen europäischer Machtexpansion und Wissenschaftsentwicklung geleugnet werden – im Gegenteil, diesen gilt es im Detail zu dokumentieren und zu interpretieren. Wichtig ist wohl aber bei allen Behauptungen und Hypothesen ein deutlicher Verweis auf die Bezugsquellen und ebenso eine Herangehensweise, die der Komplexität der behandelten Problematik angemessen ist. Ezes eigene gründliche Darstellung der rassistisch befangenen Anthropologie Kants ("The colour of reason", 103-140) stellt daher einen kontroversen, aber produktiven Beitrag dar, der für Philosophiegeschichte generell notwendige, unbequeme und möglicherweise schmerzhafte Fragen stellt und bearbeitet. Hier wird an Kant-Texten gearbeitet und zu zeigen versucht, daß rassistische Äußerungen Kants kein Nebenaspekt seines Gesamtwerks seien, sondern Ausdruck einer fundamental rassistischen Grundhaltung, die auch für ein Gesamtverständnis der Kantischen Theorie wichtig sei (130).

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  Dieser Darstellung des Begründers der kritischen Philosophie als repressiven Dogmatiker gelingt es jedoch nicht unbedingt zu überzeugen (allerdings tut das Serequeberhans Versuch einer Analsye der geschichtsphilosophischen Werke Kants als Beitrag zu einer Eurozentrismuskritik noch weniger) – und es scheint eine wichtige Frage an diesen Sammelband wie auch an die Debatte zu afrikanischer Philosophie insgesamt zu sein, worum es in erster Linie in Interpretationen gehen soll: um die Untermauerung einer "guten" afrikanischen Gegenposition zur "bösen" europäischen Philosophiegeschichte oder ein möglichst angemessenes Verständnis der komplexen anderen Geschichte, um diese für eigene konkrete Projekte fruchtbar zu machen. Dieser Artikel jedenfalls befindet sich irgendwo dazwischen.

»Warum sollte die afrikanische Diskussion gerade in postkolonialen Zeiten sich vorrangig weiterhin mit Europa beschäftigen müssen, und warum sollten heutige afrikanische Denker nicht wählen, welchen Denker aus welcher kulturellen Tradition philosophischer Reflexion sie zur Inspiration der eigenen Philosophie nutzen wollen?«

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  Auf diese Weise kann das Projekt der Eurozentrismuskritik – das zu begrüßen ist – nicht vorangebracht werden. Sowohl Serequeberhan als auch Eze bleiben die Antwort darauf schuldig, warum die Beschäftigung mit dem Eurozentrismus die vorrangige Beschäftigung für Philosophen in Afrika sein sollte. Ist dies wirklich wichtiger als die Rekonstruktion oraler philosphischer Traditionen, die Erarbeitung eigener systematischer Ansätze, die systematische Interpretation der Werke afrikanischer Philosophen der ersten (akademischen) Generation? Warum sollte die afrikanische Diskussion gerade in postkolonialen Zeiten sich vorrangig weiterhin mit Europa beschäftigen müssen, und warum sollten heutige afrikanische Denker nicht wählen, welchen Denker aus welcher kulturellen Tradition philosophischer Reflexion (inklusive der europäischen) sie zur Inspiration der eigenen Philosophie nutzen wollen?

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  Der vorliegende Band vertritt dazu eine Position, die argumentiert, daß erst durch eine vollständige Kritik am Eurozentrismus eine Befreiung aus der kolonialen Befangenheit und damit eine echt post-koloniale Zeit anbrechen kann. Aber diese Position ist nur eine unter mehreren einnehmbaren, und die vorrangige Fokussierung auf diesen Aspekt kann auch als Beschränkung gesehen werden, als andauernde Verwicklung in die Dominanz europäischer Kategorien und europäischer Geschichte. Aber gerade wenn es stimmt, daß »westliche Philosophie die afrikanische Philosophie in einem double bind eingefangen hat« (Bernasconi: "African philosophy's challenge to Western philosophy", 188), dann scheint eine Befreiung doch vor allem durch die Verfolgung selbstgewählter Forschungsperspektiven realisierbar. Tatsächlich drückt Bernasconis Titel die dominierende Perspektive dieses Sammelbandes aus; es geht darum, sich im Kontext der nordamerikanischen Philosophiediskussion klar zu werden, welche Anforderungen und Ansprüche, die afrikanische Diskussion an den Westen stellt. In diesem Sinne wird eine "westliche" philosophische Perspektive selten aufgegeben.

Kwasi Wiredu:
"Demokratie und Konsensus in traditioneller afrikanischer Politik. Ein Plädoyer für parteilose Politik".
In dieser Nummer.
Artikel



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  Leider werden die angesprochenen anderen Optionen (systematische Ausarbeitung von Ansätzen, Bearbeitung spezifischer philosophischer Traditionen in Afrika, Interpretationen moderner afrikanischer Philosophen) kaum verfolgt oder gefordert. Eine erfreuliche Ausnahme bildet Wiredus Artikel, der in seinem Plädoyer für eine parteilose Politik (303-312) einen Beitrag zu politischer Theorie mit rekonstruktiver Arbeit an der Geschichte politischer Theorie und Praxis in Afrika verbindet. Kwame Gyekye skizziert in seinem Aufsatz ("Philosophy, culture and technology in the postcolonial", 25-45) eine Perspektive für die Kompatibilität von Technologie und Humanismus in Afrika. Zwar bleibt diese Perspektive (mit einem abschliesenden Rekurs auf Kaundas "afrikanischen Humanismus") vage, die hervorgehobene kulturell bedingte Kontextualität der Konzeptionen von Wissenschaft, Technik, "Entwicklung" und deren Wertigkeiten bietet jedoch Ansatzpunkte zu einer gründlicheren Ausarbeitung dieses Programms.



 Grundlegungsarbeit an interkultureller Philosophie

»Janz erarbeitet methodische Bedingungen für ein hermeneutisches Programm, wobei er universalistische Lösungsperspektiven skeptisch unterläuft und die Hermeneutik an konkrete afrikanische Praxis von Diskursivität zu binden bemüht ist.«


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  Viele der Beiträge dieses Sammelbandes nähern sich also dem afrikanischen philosophischen Diskurs von außen und stellen ihn nicht von innen her dar. Aus der Perspektive der Grundlegungsarbeit an interkultureller Philosophie verdienen zwei Aufsätze besondere Beachtung: Richard Bell und Bruce Janz versuchen, philosophischem Denken in Afrika nahezukommen und – von unterschiedlichen systematischen Ansätzen her – Weisen solcher Annäherung methodisch zu begründen und auszuarbeiten. Bei beiden handelt es sich um so etwas wie die Skizze zu einem längerfristig auszuarbeitendem Programm. Bell, in einer "Übung in interkultureller Philosophie" (197-220) demonstriert sehr sensibel, über den (Frazer diskutierenden) späten Wittgenstein und mit konkreten und lebendigen Bezügen zu Literatur (v.a. Bessie Head) und anderer ästhetischer Praxis im südlichen Afrika, ein "Sichhineinfinden" in die polyglotte Selbstverständlichkeit des Lebensalltags und seiner Reflexion im heutigen (postkolonialen) Afrika.

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  Janz thematisiert das Programm einer afrikanischen philosophischen Hermeneutik ("Alterity and Dialogue in African Philosophy", 221-238). Hierbei sucht er einen dritten Weg zwischen den beiden bisher einschlägigen Ansätzen von Theophilus Okere und Tsenay Serequeberhan, der sowohl in einer afrikanischen Praxis des Verstehens gründet (der Mangel von Okeres Ansatz), als auch theoretisch als hermeneutischer Ansatz ausgearbeitet ist (Mangel Serequeberhans). Janz erarbeitet methodische Bedingungen für ein solches hermeneutisches Programm, wobei er universalistische Lösungsperspektiven skeptisch unterläuft und die Hermeneutik an konkrete afrikanische Praxis von Diskursivität zu binden bemüht ist. Beide Beiträge bieten solide Ausgangspunkte für weitergehende Forschungen in diese Richtung.



 Das Dilemma: die westliche Welt als Peiniger und Retter?

Kai Kresse
lehrt afrikanische Philosophie und Sozialtheorie an der SOAS, University of London, wo er auch promoviert.

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  Sollte somit Emmanuel Eze, der Herausgeber, recht behalten mit seiner dilemmatischen Losung zur postkolonialen Lage afrikanischer Philosophie: »the West is against us, yet the West is our saviour«? Zumindest sollte bei einer genaueren Einschätzung der Lage, wie auch bei der Beteiligung an der postkolonialen Praxis afrikanischer Philosophie auch auf D.A. Masolo gehört werden, der vor gewissen Fallen postkolonialer Theorie warnt (z.B. simplizistische Verallgemeinerungen, die die eigene Basis für produktive Arbeit unterhöhlen). Drei wichtige Einsichten postkolonialer Theoretiker gelte es im Bewußtsein zu behalten und stets aufs neue fruchtbar zu machen: daß Subjekte nicht mehr so abstrakt gedacht werden könnten wie zu nach-aufklärerischen Zeiten, daß zwischen Subjekten als Schülern und Proponenten verschiedener Werte und den Mitteln der Einschätzung von Urteilen eine große Kluft besteht und daß so etwas wie die Schönheit der Vernunft im Diskurs häufig irreal und illusorisch ist (293).

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  Diese Buch ist ein wichtiges Buch, weil man sich an vielen Stellen an den gemachten Aussagen und der Art und Weise ihrer Darstellung reiben kann und reiben muß. Da die spezifische Perspektive, d.h. die des nordamerikanischen philosophischen Diskurses, nicht im Titel ausgedrückt wird, werden notwendig die geweckten Leseerwartungen enttäuscht, die auch auf eine repräsentative Darstellung der aktuellen innerafrikanischen philosophischen Diskurse (samt Beiträge daraus) gerichtet sind. Diese Aspekte werden nicht berücksichtigt. Auch die Möglichkeit, postkoloniale philosophische Diskurse in den verschiedenen afrikanischen Regionen zu dokumentieren, wurde außer Acht gelassen. Dennoch bieten eine Reihe von Beiträgen Anregungen und Orientierungshilfen zu verschiedenen Feldern afrikanischer Philosophie, so daß die Auseinandersetzung damit – und vor allem, die eigene Positionsbestimmung dazu – lohnend ist.



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